1972 lernen sich der Grundschullehrer Eugene Klein (gebürtig als Chaim Witz) und der Taxifahrer Stanley Eisen kennen. Beide sind musikbegeistert und bei einigen Bands als Backing Vocals zu hören. Aber warum nur in der zweiten Reihe tanzen, wenn man selbst eine Band gründen kann? Gesagt, getan: Wicked Lester entstehen, eine fünfköpfige Band, die es sogar zu einem Plattenvertrag mit Epic Records bringt. Allerdings möchten die beiden Köpfe der Gruppe Klein und Eisen ohne ihre drei Bandkollegen weitermachen. Da diese davon wenig begeistert sind, wird kurzerhand von Grundschullehrer und Taxifahrer eine neue Gruppe gegründet. Über den Rolling Stone findet man einen Schlagzeuger und später stößt noch ein Leadgitarrist zur Band. Die Schreibweise des Bandnamens wird oft mit den Sig-Runen der SS gleichgesetzt, die Band selbst wehrt sich strikt dagegen, sind Teile der Band schließlich jüdisch und haben in ihren Familien Opfer der NS-Zeit zu beklagen. Diese zwei Buchstaben sorgen allerdings noch länger für kontroverse Diskussionen, in Deutschland wird schließlich das Bandlogo verändert. 1973 gibt es den ersten Liveauftritt in Queens, New York, USA. Nach einem Demoband folgen der Plattenvertrag, weitere Auftritte, die erste Tour und 1974 auch das Debütalbum.
Um wen geht es überhaupt? Vier geschminkte Männer, die ihre Maskerade bis in die 1980er Jahre hinein aufrecht erhalten. Starchild, Demon, Spaceman und Catman erobern die Bühne, mit kreischenden Gitarren und ein bisschen Feuer. KISS waren geboren und sind seitdem nicht mehr wegzudenken. Wie viele Abschiedstournees hat es gegeben? Vielleicht nur eine, aber die zieht sich über Jahre. Interessant sind ja auch der ewige Streit und die öffentlichen Sticheleien von und gegen ehemalige Bandmitglieder. Auf den Konzerten erlebt man eine Feuershow, die immer noch maskierten, mittlerweile gealterten Männer, die nicht mehr ganz so quietschig hoch singen können, sich aber immer noch durch die Lüfte schwingen - und natürlich darf niemals der Hit „I was made for loving you“ fehlen, das ziemlich lukrative Resultat einer einfachen Wette: Jeder könne einen erfolgreichen Popsong schreiben. Quod erat demonstrandum.
Zurück ins Jahr 1974 und zum Debüt, das auch Kiss benannt wurde. Bei eingefleischten Fans ist die Scheibe teilweise ein bisschen umstritten, was ich nicht verstehen kann. Nach zwei Konzerten kommt mir der Klang der Platte nicht sonderlich anders vor, nach Radioverweigerung ist es erfrischend, auch mal was anderen vom Quartett zu hören. „Strutter“ gibt den Einstieg, eine gutes Midtempo, etwas stampfend, man ist sofort drin und wippt im Takt mit. Ja, keine herausragende Nummer, aber doch etwas, das einfach nicht stört und für gute Laune sorgt. „Nothin‘ To Lose“, Gitarre, Schlagzeug, dann geht es erst so richtig los. Erinnert mich sofort an „Get It On“, weniger an die späteren KISS-Sachen. Aber es ist gefällig, tanzbar sogar, vor meinem inneren Auge ersteht eine dieser Jugenddiscos aus den 70er, 80er Jahren, wo sich die Dorfjugend verabredet, an alkoholfreien Getränken nuckelt und recht züchtig – aus heutiger Sicht – gemeinschaftlich auf der Tanzfläche tanzt, natürlich ohne Körperkontakt. Dieser biedere Eindruck aus vergangener Zeit, zwischen Althergebrachtem und Aufbruchsstimmung, zieht sich durch. Stellenweise könnten die Songs der Soundtrack zum Film Goodbye, Lenin sein oder Sonnenallee. Auch „Firehouse“ schlägt in die Kerbe, denn hier feuert gar nichts, es ist eine so langsame, ruhige Nummer, dass jedes Feuer erlöschen würde. „Cold Gin“ – ja, die Gitarre, den Klang, die Riffs, das kennt man bei der vierten Nummer schon. Es passiert nichts im Song. Er bleibt gleich, schleppend, beige, braun, trist, wie Cordhosen, die knapp unter den Brustwarzen mit einem Gürtel zusammengehalten wird. Ganz Kesse haben Lederjacken mit Teddyfellkragen und rauchen verstohlen in der Ecke, rennen irgendwann vor der Polizei weg und schmachten Mädchen an, die irgendwann aus gesellschaftlichem Zwang heiraten müssen, weil ein Kind erwartet wird. „Let me know“, ob nur ich diesen Eindruck habe? Auch „Kissin‘ Time“ passt in dieses Kopfkino, obwohl es hier endlich mal ein bisschen mehr zur Sache geht. Fast schon aggressiv im Vergleich zum Rest des Albums, hui. Aber das ist es ja auch, diese Aufregung, der Puls schnellt in die Höhe, das Herz klopft lautstark gegen die Brust, die Handflächen werden schwitzig und man hat keine Ahnung, wie der erste Kuss sein wird, was man tun muss, was das Mädchen, das die Augen geschlossen hat und die Lippen spitzt, jetzt erwartet. Naja und danach schwebt man erstmal auf Wolke 7. Bei „Deuce“ gibt es gegen Ende hin richtige Fingerarbeit auf der Gitarre, hui … jetzt brauchen wir aber fast wieder etwas Entspannung, das war ja richtig anstrengend. Weiter geht es mit „Love Theme From Kiss“. Das ist so der unschuldige Tagesausflug mit Fahrrädern ins Grüne, auf dem Gepäckträger hängt der Picknickkorb und am Bachufer sitzen schon zwei befreundete Pärchen. Von Liebe ist eher nichts zu spüren, Küsse gibt es auch keine, aber die Jungs reden über Sport und die Mädchen tauschen sich über Stickmuster aus. „100,000 Years“ passt gar nicht rein. Schneller, rockiger, huch, da kommt jetzt plötzlich was Neues in die biedere DDR-Romantik, die Aufbruchstimmung, diejenigen, die unter Beobachtung stehen, rebellieren und von den unschuldigen, braven Mädchen so sehr angehimmelt werden. War vor 100.000 Jahre auch schon so. Finally the last song, „Black Diamond“ – hach, jetzt wird es ja schüchtern leise romantisch … aber auch nur am Anfang. Wir sind raus aus der beigen DDR-Idylle, die Alternativen haben uns aufgeweckt und wollen das Viertel übernehmen, nach dem Vorspann, der gerade mal acht Songs lang war, kommen wir nun zum eigentlich Filmgeschehen, der wilden Romanze der Mutigsten unter den Mauerblümchen, die ein anderes Leben erträumt hat und auf einen Ausbruch hofft. Liebe, Leidenschaft, Luxus. Wie es weitergeht? Tja …
Kiss ist ein bisschen ausklingende West Side Story ohne die Power, das Mitreißende von Bernstein. Wie ein Seitenstrang der Geschichte, der eben nicht erzählt wird, weil diese Liebe so trivial ist und keine verfeindeten Gruppen verbindet. Herzloser als Romeo und Julia, harmloser als Miss Piggy und Kermit. Das Album ist wenig schockend, wenig glamourös oder auffallend. Weit weg von KISS heute. Was irgendwie ein harter Rock’n’Roll Löwe sein soll, entpuppt sich als zahmes Schmusekätzchen. Aber schlecht ist das Debut dennoch nicht, denn aus heutiger Sicht katapultiert es zurück in eine Zeit vor einem halben Jahrhundert – zwischen Konventionen und Aufbruch.
KISS – Kiss
A1 – Strutter
A2 – Nothin‘ To Lose
A3 – Firehouse
A4 – Cold Gin
A5 – Let Me Know
B1 – Kissin‘ Time
B2 – Deuce
B3 – Love Theme From Kiss
B4 – 100,000 Years
B5 – Black Diamond
Paul Stanley – Guitar, Vocals
Gene Simmons – Bass, Vocals
Ace Frehley – Guitar
Peter Criss – Drums
