Story: Dr. John – The Nighttripper – Gris Gris


AND THUS IT BEGINS…

Als käme ein Sound aus dem Schatten auftauchend, erklingt der erste Ton – eine sich windende, schlangenartige Melodie auf einem Rohrblattinstrument, im Klang der indischen Shehnai ähnlich, aber ausgefranst an den Rändern, als wäre sie getränkt in der hauchigen Wärme eines Ben Webster. Dann setzt die Stimme ein: tief, intim und mit einem Hauch von Bedrohung „They call me Doctor John, known as The Night Tripper.“ Gleich zwei Namen? Und wer sind die ominösen „They“? Obwohl der heisere Flüsterer jenen, die ihn kannten, als Mac bekannt war, Kurzform von Malcolm, Nachname Rebenack – und wie viele Alben beginnen eigentlich mit einer so unheimlichen persönlichen Vorstellung ? Nicht viele. Eine andere, die mir einfällt: die Rolling Stones mit „Sympathy for the Devil“, ebenfalls 1968 veröffentlicht, mit dem gewagten Einstieg: „Please allow me to introduce myself…“. Nur Satan und seine Spießgesellen wagen solche Selbstbekundungen. Auch Fats Dominos entwaffnende erste Zeile von „The Fat Man“, 1949 aufgenommen in Cosimo Matassas Rampart Street Studio in New Orleans – „They call, they call me the fat man . . .“ – eine Zeile, gesprochen mit einem Lächeln, nicht mit einem Knurren, er blinzelte dabei eher schelmisch und er war alles andere als satanisch.

Ich hatte dieses Album zum ersten Mal gehört, als ich 1976 meine Semesterferien in den USA verbrachte. Ich besuchte zwei Freunde von mir, die ich im Jahr zuvor auf ihrer Eurorail Reise auf dem Bahnhofsplatz von Nizza kennengelernt hatte, wir teilten Joints, Wein, Käse, Baguettes, hatten aber noch keine Ahnung, wo wir schlafen würden, aber das ist eine andere Geschichte, wie gesagt, diese beiden Freaks (man erkannte sich gegenseitig am Outfit und an der Vorliebe für Rauchwaren) lebten in einer Hippie-Kommune in einem Haus am Rand der Pferderennbahn in Baltimore. Jedes Wochenende kam der Hausdealer mit einer braunen Papiertüte gefüllt mit sogenannten ‘lid bags’. Zip-Lock Beutel gefüllt mit einer Unze Oaxaka Gold. Ein ‘lid’ war ungefähr eine US Unze, 32g und kostete 15 $. 1976 kostete ein Pack Zigaretten 40 Cents und eine Gallone Benzin 0,95 $, ein Six-Pack Bier 2.62 $. Anyway, die besagte mexikanische Importware musste immer erst gecleant werden, seeds and stems etc. (Commander Cody and His Lost Planet Airmen – „Down to Seeds and Stems Again Blues“). Für dieses Ritual kam ein immer irgendwo herumliegendes Plattencover zum Einsatz und das war eben das besagte Gris-gris von Doctor John, dem Night Tripper. Die Doobies wurden herumgereicht, (Don’t bogart that joint, my friend – Fraternity of Man aus Easy Rider und Little Feats Waiting For Columbus in der Kombi mit „Willin’“). Aber zurück zum Voodoo Meister.

Dann kam der Flash…..!

Hätte ich damals ein enzyklopädisches Wissen über Musik gehabt, hätte ich vielleicht begonnen, die dichten, miteinander verknüpften Fäden von Gris-gris zu entwirren. Aber damals schien das Album aus dem Nichts zu kommen, ohne erkennbare Verbindung zu irgendetwas jemals Gehörtem. Flüstern und Heulen, murmelnde Gesänge und seltsame Waldgeräusche, Schweinegrunzen, Seufzer, Schlaflieder oder Kinderreime, unverständliche Dialekte, Sprachgewirr, gestrichener Kontrabass, Tambourine, Flöten, Banjos, Congas, Bottleneck-Gitarren, Second Line-Drumming fast ganz ohne Becken, E-Bass, Cembalo, Blasinstrumente durch Effektgeräte gejagt und eine Orgel, die klang wie nichts, was man als Orgel bezeichnen würde. Kein Klavier – entgegen späterer Behauptungen. Die Struktur des Albums basierte nicht auf Harmonien, alles versank im dunklen Sound der berühmten Echo Chambers von Gold Star Studios (Phil Spectors Wall Of Sound) in die die Stimmen und Instrumente sanken, als würden sie in den Abgrund stürzen.
Und wer waren diese geisterhaften Figuren die in den Liedtexten auftauchten?
Zozo la Brique, Jump Sturdy, Coco Robichaux, Queen Julia Jackson, Mama Roux, Tit Alberta – Fragen schossen auf wie Feuerwerk. Waren das alles Voodoo-Priester, lebendig oder tot, erfunden oder real?

Das Cover verriet wenig . Wie so viele andere, die dieses Album entdeckt haben, erfand ich mir eigene Bedeutungen, eigene Mythen. Der Klappentext auf der Rückseite war verschwurbelt, und liest sich wie ein kodierter Fiebertraum, voller Insiderwitze bewusst mystifizierend,– eindeutig eine Strategie, die wir heute wohl als Image-building bezeichnen würden. Diese Figur – Dr. John – starrt vom Rückcover herab wie ein Zombie, bärtig, zersaust, verquollenlidrig, in etwas gekleidet, das aussieht wie Schlangenhaut. Seitlich vom Bild in Großbuchstaben: „WHO?“, steht da. Dann: „MY GROUP CONSISTS OF DR. POO PAH DOO OF DESTINE TAMBOURINE… DR. BATTISTE OF SCORPIO IN BASS CLEF… DR. BOLDEN OF THE IMMORTAL FLUTE FLEET…“ und so weiter – Sister Stephanie, St. Theresa, John Gumbo, Karla Le Jean – „ALL DREGED UP FROM THE RIGOLETS BY THE ZOMBIE OF THE SECOND LINE. UNDER THE EIGHT VISIONS OF PROFESSOR LONGHAIR REINCANNTED THE CHARTS OF NOW.“ Die vorhandenen Tippfehler verstärken nur das Mysterium – ob beabsichtigt oder nicht, sie gehören dazu.

Laut Harold Battiste – Arrangeur, Produzent und, in Wahrheit, Mitarchitekt von Gris-gris – wurde all dieses Material in großer Eile zusammengestellt. Nach den Sessions im August und September 1967 traf sich Battiste mit Sonny Bono, seinem Geschäftspartner bei Progress Records. Sie besprachen die Vertriebskanäle der Masterbänder und die Vermarktung des Albums. Im Oktober brachte Battiste die Bänder zu Ahmet Ertegun von Atlantic Records. „Was soll ich meinen Promotion-Leuten sagen? Welche Radiostationen sollen diesen Mist spielen?“ So berichtet Battiste über das Treffen in seiner Autobiografie Unfinished Blues von 2010. Warum Ertegun das Album trotz seiner Zweifel veröffentlichte, bleibt unklar. Mac Rebenack beschreibt es in seiner Autobiografie Under a Hoodoo Moon etwas farbvoller: „Ich machte gerade eine Session für Bobby Darin, als Ahmet Ertegun ins Studio kam und nach mir suchte. Er war sauer, wollte wissen, was es mit diesem Gris-gris-Album auf sich hatte. Er lief im Studio herum und schrie mich an: „Why did you give me this shit? How can we market this boogaloo crap?“ Er hatte eine Platte am Hals, die heimlich gemacht worden war, und er benahm sich so, als wolle er sie überhaupt nicht veröffentlichen.

Es erscheint unwahrscheinlich, dass Ertegun, ein intellekueller New Yorker, Gris-gris mit einem Stil der NY-Latin-Soul-Fusion verwechselte, dessen einzige Ähnlichkeit ein paar Congas waren. Atlantic veröffentlichte 1968 Boogaloo-Platten von The Harvey Averne Dozen und Charlie Palmieris *Latin Bugalu*. Vielleicht dachte er an Louisiana-Boogaloo oder Party-Musik, oder auf Lou Donaldsons 1967er Swamp-Funk-Jazz-Track „Alligator Boogaloo“ – von Blue Note als „Electric Bogaloo“– mit zwei brillanten Musikern aus New Orleans: Melvin Lastie (Kornett) und Leo Morris (alias Idris Muhammad).
Das wahre Problem war die Undefinierbarkeit, diese Musik war jenseits aller Genres, ein echtes Marketingproblem, damals wie heute. Letztlich wurde die Platte mit einer halben Seite im Rolling Stone als „The Sound of Cajun-Rock!“ beworben, was kaum eine Verbesserung gegenüber „boogaloo crap“ darstellte. Noch ein Zeichen für kreative Ratlosigkeit war das Promo-Poster zur Veröffentlichung, das den Rückseitentext unter einem Profilbild vom Frontcover abdruckte, mit einem einzigen Wort zentriert oben in Anführungszeichen: „FEEL“. Mit anderen Worten: Wir können euch nicht sagen, was diese Platte bedeutet – ihr müsst sie selbst fühlen.

Vielleicht war es also Sonny Bono, dieser rastlose Macher aus der Phil-Spector-Schule, dem wir es zu verdanken haben, dass diese geisterhafte, unvermarktbare Platte überhaupt das Licht der Welt erblickte. Seine Verbindungen zum ATCO Label waren 1967 noch stark, getragen vom Erfolg von Sonny & Cher mit Hits wie „The Beat Goes On“. Wenn Ahmet Erteguns Instinkt ihm sagte, dass der Beat von Sonny & Cher bald abrupt verstummen würde, und deren Stern im Sinken war, könnte genau das der Moment gewesen sein, in dem er sich entschloss, Gris-gris dennoch freizugeben – vielleicht aus Laune, vielleicht aus Trotz, vielleicht, weil er tief drinnen wusste, dass es mehr war als nur ein seltsames Nebenprojekt. Und wenn nicht – wenn Sonny Bono nicht gewesen wäre, wenn Ertegun nein gesagt hätte, wenn das Masterband verloren oder vergessen worden wäre – dann gäbe es diese Geschichte nicht. Keine Gris-gris-Legende. Kein Dr. John, wie wir ihn heute kennen. Kein Sprung in den Kaninchenbau aus Musik, Magie, Maskerade und Mysterium.

Aber so war es nun mal: Ein seltsames, leuchtendes Artefakt kam aus dem Nebel von 1967/68 zu uns, halb sichtbar, halb geträumt. Es war das Gegenteil dessen, was der Mainstream verlangte – unzugänglich, unverständlich, doch irgendwie tief berührend. Gris-gris war (und ist) eine Einladung, nicht zum Hören, sondern zum Fühlen. Eine Platte, die mehr in Schatten spricht als im Licht. Ein Echo aus der Tiefe.

WHAT A TRIP! Inzwischen höre ich mir die Platte ab und zu auch ohne Drogisten Spezereien an…, BUT, THE FIRST FLASH WAS THE BEST ONE, NO SHIT!

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