Die Beach Boys waren aber nicht so leicht zu besiegen. Es gelang ihnen, einen Vertrag mit Warner Brothers‘ Reprise-Label auszuhandeln, und irgendwie, inmitten all des Tumults, schafften sie es tatsächlich, ein Album aufzunehmen. Und noch dazu war es ein verdammt gutes – Sunflower, das schließlich im August 1970 veröffentlicht wurde, war eine erhebliche Weiterentwicklung gegenüber den Smile-Nachahmungen und -Ersatzprodukten der letzten Jahre.
Zum einen klingt es wie eine richtige Platte mit richtigen Songs und nicht nur wie ein Durcheinander von Fragmenten, die in Brians Schlafzimmer zusammengeworfen wurden. Es war auch das erste Beach Boys Album, bei dem alle Bandmitglieder ernsthaft Songs beisteuerten – insbesondere Dennis. Er war der einzige Beach Boy, der jemals wirklich Sexappeal ausstrahlte (nichts gegen die anderen), und er war der einzige, der Soul- und Funk-Musik erfolgreich adaptierte. Sein Eröffnungssong „Slip On Through“ pulsierte härter als jeder ihrer Songs zuvor, und „Got To Know The Woman“, obwohl voller sinnloser Texte: „If you feel the feel I feel, you dig the feel of me“ – What!?? Aber der Song zeigte einen rauen, sexy Dennis-Gesang, der für die Beach Boys geradezu pornografisch war.
Bruce Johnston, der als Tournee-Ersatz für Brian begann, steuerte ebenfalls ein paar Songs bei: „Dierdre“ und „Tears In The Morning“ sind beide unbestreitbar süßlich-kitschig, aber sie sind so unbeirrbar aufrichtig, dass sie damit durchkommen. Al Jardines „At My Window“, eine eigenwillige kleine Kuriosität über Vögel, ist ehrlicherer Spaß als alles, was diese “Scouser” (jene Band aus Liverpool) je gemacht haben. Und Brians Bemühungen – oft mit Texten von Mike Love – gehören zu seinen stärksten: „All I Wanna Do“ schwebt wehmütig dahin, untermauert von labyrinthartigen Vokalharmonien, die fast an “Shoegazer” erinnern, und „Cool, Cool Water“, ursprünglich für Smile konzipiert, ist eins seiner lockersten und zugleich eindringlichsten Kompositionen.
Und selbst, mal das turbulente Aufnahmeumfeld beiseite gelassen, kann die Raffinesse und Erfindungskraft der Produktion erstaunlich sein. „Dierdre“ verbindet einen Bläsersatz, lässig gezupfte Gitarren, jene charakteristischen Vokalharmonien und einem dominanten Flötespiel. Bei „Add Some Music To Your Day“ übernimmt jedes Mitglied an irgendeinem Punkt den Leadgesang, wechselt fast unmerklich zwischen Stimmungen, schiebt Streicher und ein Cembalo mit einer Geschicklichkeit ein, die es schwer macht zu glauben, dass in einem so einfach klingenden Track so viel passiert. Und orchestrale Arrangements von Michel Colombier (der vor allem durch seine Filmmusiken bekannt werden sollte) verleihen Johnstons Kompositionen und gerade „Our Sweet Love“, einer geradlinigen, aber starken Ballade, die von der engelsgleichen Stimme des kleinen Bruders Carl angeführt wird, ein echtes “pocket-symphony-feeling”.
Sunflower erweist sich als eine ihrer allerbesten Platten. Sicher, nicht so bahnbrechend wie Pet Sounds, aber es gab eine echte Tiefe in dem, was sie taten. Vorbei waren die Tage, in denen man darauf wartete, dass Brian kleine Teile seines Genies herausgab; die Beach Boys waren eine Rockband, und sie begannen wieder, sich wie eine solche zu verhalten. Sie alle packten mit an, schrieben gute Stücke, nahmen sie brillant auf und verpackten sie auf zwei kohärenten Seiten einer Schallplatte. Was kann man mehr von einer Rockband verlangen?
Anscheinend eine ganze Menge mehr. Die erste bei Warner eingereichte Titelliste wurde glatt abgelehnt. Nach einigen Überarbeitungen und zusätzlicher Studiozeit wurde sie widerwillig akzeptiert. Im Vereinigten Königreich wurde Sunflower von Kritikern und kommerziell herzlich aufgenommen, aber in den USA – wo es für „America’s Band“ darauf ankam – wurde es ihr bisher schlechtestes Verkaufsalbum. Jim Miller vom Rolling Stone würdigte seine Vorzüge, bemerkte dann aber: „Es lässt einen fragen, ob überhaupt noch jemand ihre Musik hört oder sich dafür interessiert.“ Miller fuhr fort: „Dieses Album wird wahrscheinlich das Schicksal haben, als dekadentes Stück Plüsch-Flaum angesehen zu werden, zu einer Zeit, in der wir mehr Liberation Music Orchestras (Ein großes Jazzensemble, das 1969 von Charlie Haden gegründet wurde), gebrauchen könnten.“ Der Vergleich ist ein wenig unfair – eine Sommer-Pop-Platte gegen ein Avantgarde-Jazz-Protestalbum – aber das Urteil ist aufschlussreich. Es war 1970 – Der Höhepunkt der Gegenkultur. Heftige Proteste erfassten die Straßen; New Hollywood schlug sich durch die Kinoleinwände; Vietnam war in den Köpfen der Amerikaner. Die Beach Boys – kaum aus ihren passenden gestreiften Hemden heraus – waren immer noch nicht auf einer Wellenlänge mit dem Rest ihres Landes.
Jemand erkannte dies zu der Zeit: Ein Radiomoderator aus Los Angeles namens Jack Rieley schrieb der Band, nachdem er Brian im Radio interviewt hatte. In einem sechsseitigen Memo führte er detailliert auf, was seiner Meinung nach die Probleme der Beach Boys waren und wie sie diese beheben könnten. Die Beach Boys müssten die turbulenten Zeiten um sich herum annehmen und die Missstände der Gesellschaft kommentieren. Sie müssten härter, funkiger, trippiger werden. Sie müssten sich mit der Gegenkultur auseinandersetzen. Nick Grillo, der langjährige Manager der Band zu dieser Zeit, erinnerte sich: „In ihrer Karriere passierte nichts … sie saßen einfach da und warteten auf eine neue Stimme, und Jack Rieley war diese Stimme.“ Er wurde sofort eingestellt und übernahm effektiv die Leitung der Band. Es folgten eine Reihe glücklicher Live-Auftritte, die den Ruf der Beach Boys steigerten, zumindest unter der Rock-Intelligentia der Westküste (der Subkultur, die die Boys immer unbedingt beeindrucken wollten). Sie spielten beim Big Sur Folk Festival und begeisterten ihr Publikum. Sie spielten vier ausverkaufte Nächte im Whisky A Go Go – diesem Tempel des L. A. Hard Rock, dem die Doors, Frank Zappa, Led Zeppelin und die Byrds alle ihren Erfolg verdankten. Später im Jahr 1971, traten sie landesweit auf. Wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben begannen sie wirklich hart zu arbeiten: Sie spielten ununterbrochene Shows in grottigen Locations vor winzigem Publikum für magere Gagen. Aber es funktionierte. Sie kämpften sich aus dem Grab zurück.
Dann, im April 1971, im Fillmore, New York, geschah etwas Magisches. Die Grateful Dead spielten vor ihrem üblichen Publikum aus bekifften und/oder auf LSD trippenden Hippies. Nach drei Stunden psychedelischem Jazz-Rock verkündete Jerry Garcia plötzlich: „Jetzt möchten wir einige kalifornische Kollegen begrüßen … The Beach Boys.“ – Und die Menge rastete völlig aus. Das Grateful Dead/Beach Boys-Konzert ist ein wahres Stück Rock-Mythologie. Bootlegs waren im Umlauf, über die in gedämpften Tönen gesprochen wurde, geflüstert durch Wolken von siebziger Jahre Weed-Rauch. Das Undenkbare war geschehen: Die Beach Boys waren cool geworden. Die Gegenkultur, die sie noch ein Jahr zuvor verblüfft und verschmäht hatte, begann, sie für das zu sehen, was sie waren: Vitale musikalische Innovatoren; die Vorläufer all ihrer Lieblingsbands; Autoren ihrer Kindheitssoundtracks; und Killer-Live-Performer. Im Mai spielten sie bei einer Antikriegsdemonstration in Washington, D.C., was ihren Ruf als „right-on“ festigte.
Inmitten ihrer unermüdlichen Tourneen gelang es ihnen auch, das (zweit-)beste Album ihrer Karriere aufzunehmen. Das Erscheinen von Surf’s Up vom Juli 1971 markierte ihre Wiedergeburt. Es zeigte eine neue Seite der Beach Boys – das wird schon am Albumcover deutlich. Vorbei sind die sorglosen, cherubischen Jungs vergangener Alben; hier ist ein Bild von Niederlage und Erschöpfung, in trüben Blau- und Grüntönen gehalten; ein Bild des mythologischen amerikanischen Todes. Der Titel suggeriert ein ironisches Spiel mit der Musik, die sie berühmt machte – Surf’s Up, vorbei, erledigt. Mit Jack Rieleys Anstoß begannen die Beach Boys, sich dem härteren Realismus anzuschließen, der die Flower-Power- und Free-Love-Idealismus der 60er Jahre überrollt hatte.
Aber Surf’s Up ist nicht hart – es ist eine verzweifelt traurige Platte, trotz all der „ba-ba-mm-mm“-Harmonien. Das Album beginnt mit Mike Loves und Al Jardines „Don’t Go Near The Water“ – eine lyrische Erklärung, die, von den Beach Boys kommend, herzzerreißend ist. Die Band, die einst behauptete, jeder würde wie in Kalifornien surfen, warnte nun, dass „unser Wasser schlecht wird“. Das Lied ist eine von zwei umweltbewussten Nummern auf dem Album, die andere ist „The Day In The Life Of A Tree“, eine bizarre Einbildung, die Brian in seiner exzentrischsten Phase schrieb und von Rieley selbst gesungen wurde (angeblich fand die Band die Texte „zu deprimierend“, um sie selbst zu singen). Es gab auch sozioökonomische Kommentare: „Looking At Tomorrow (A Welfare Song)“ , ein weiterer Jardine-Beitrag, ist genau das, was es vorgibt zu sein, wobei der Erzähler beklagt, dass „all the good jobs they were had/ I had to take to sweeping up some floors“. Kein wirklich bahnbrechendes Gefühl, aber die spärliche, hall-lastige Produktion macht es geradezu beängstigend. Die offensichtlichsten politischen Anspielungen fanden sich in dem von Mike Love verfassten „Student Demonstration Time“. Obwohl es mit verrückten Soundeffekten überladen ist, handelt es sich um eine ziemlich einfache Hardrock-Neuinterpretation des R&B-Standards „Riot In Cell Block Number 9“, wobei Loves Texte von den Kent State Shootings von 1970 inspiriert wurden. Dieses tragische Ereignis inspirierte auch Crosby, Stills, Nash & Youngs Protesthymne „Ohio“, welches ein viel besserer Song ist. Aber wir geben Mike ein “A for trying” – auch wenn er zu dem lahmen Schluss kommt: „I know we’re all fed up with useless wars and racial strife/ But next time there’s a riot, well, you best stay out of sight“. Klingt doch ganz vernünftig, oder? Der wahre Star von Surf’s Up ist jedoch Carl. Er schrieb und spielte fast jedes Instrument auf dem wunderschönen „Long Promised Road“, das zwischen einer Moog-fokussierten Ballade und einem mitreißenden Rocker wechselt. „Sew up the wounds of evolution and the now starts to get in my way“, singt er und liefert einige der nachdenklichsten Texte der Band. Und: „So hard to laugh a child-like giggle when the tears start to torture my mind“ könnte ein Oberbegriff für das gesamte Album sein. Carl Wilson schrieb auch (mit Rieley) „Feel Flows“, ein herzlicher und leicht psychedelischer Song, der klingt, als würde er seinen großen Bruder Brian in der Welt abdriften sehen. Egal wie man es betrachtet, es ist ein wahres Juwel, mit Carls süßen Tönen, die rückwärts über Schichten von Gesang, Orgel, Klavier und dann einem Gitarren-Flöten-Sax-Moog-Solo-Abschnitt hallen. Hinzu kommen Bruce Johnstons „Disney Girls (1957)“, ein nostalgisch-wehmütiges Stück und der beste Song, den er je geschrieben hat, und „Take A Load Off Your Feet“, ein alberner, aber unwiderstehlicher Song über, äh, die Pflege Ihrer Füße…
Kurzum: Endlich erkannten die Beach Boys die Zeiten, in denen sie lebten. Ihre Songs handelten einst von Spaß haben, Mädchen lieben und schnell und locker leben; jetzt handelten sie von den Erinnerungen an Spaß, dem Kampf ums Lieben und den Ungerechtigkeiten der Welt (zugegebenermaßen handelt „Take A Load Off Your Feet“ von nichts davon). Aber, wie gesagt, die Beach Boys waren in den Siebzigern angekommen.
Aber Surf’s Up spart das Beste bis zum Schluss auf. Der vorletzte Track „‘Til I Die“ könnte im Nachhinein Brians letztes echte Aufblitzen eines brillanten Textes sein, bevor er völlig von Drogen und Krankheit verzehrt wurde. Es durchläuft zunehmend klagende Akkorde mit lyrischen Resignation wie „I’m a cork on the ocean/ Floating over the raging sea“ und „I’m a leaf on a windy day/ Pretty soon I’ll be blown away“, bevor es in kreisförmige Harmonien von „These things I’ll be until I die“ übergeht. Nicht gerade fröhlich, aber als Spiegelbild von Brians Geisteszustand – wiederum Niederlage, Verlust, Traurigkeit – ist es perfekt. Und nach „‘Til I Die“ folgt der Titeltrack. Der Titelsong, mit surrealistischen Texten von Van Dyke Parks, ein weiteres Stück, das ursprünglich für Smile gedacht war, ist ein absolutes Meisterwerk. Es hat die Song-im-Song-Struktur vieler Brian-Kompositionen aus der Smile-Ära und eine schelmisch-einsame Stimmung, die den Song nahtlos in den Rest des Albums einfügt. Die Van Dyke Parks-Lyrics klingen in ihrer typisch esoterischen Art wie T. S. Eliots “The Waste Land” im musikalschem Stil von Richard Wagner; es sind die eindringlichen Echos einer sterbenden Zivilisation. „Columnated ruins domino“, singt Carl, eine zunächst schwer begreifliche Zeile, die Brian 1967 in einem Interview erklärte als: „Imperien, Ideen, Leben, Institutionen – alles muss fallen, wie Dominosteine.“ 1971, nachdem seine einst unangreifbare Band den Tiefpunkt erreicht hatte, schätzte er dieses Gefühl sicher mehr denn je. Begleitend zu jenen Worten kommt musikalisch eine seiner reichsten Kompositionen daher, die ein gedämpftes Waldhorn, etwas Glockenspiel, mehr modulare Synthesizer-Pads, elastische Tempi, inspirierte Tonartwechsel und einige seiner himmlischsten Gesangsarbeiten enthält. Man könnte eine Dissertation darüber schreiben, wie gut dieser Song ist. Und er dauert kaum vier Minuten. „Surf’s Up“ ist der spektakuläre Höhepunkt all des Genies der Beach Boys und rundet die Platte wunderschön ab.
Surf’s Up erweist sich als die beeindruckendste Platte ihrer Karriere – Pet Sounds mag für viele besser sein, aber Surf’s Up ist der erste und vielleicht einzige Versuch der Beach Boys, bei dem sie tatsächlich reif klingen. Sie hatten ihre Unschuld in Müdigkeit verwandelt, ohne ihre Aufrichtigkeit zu opfern, und ihre makellose technische Exzellenz bewahrt. Sie wurden mit ihrem meistverkauften Album seit 1967 belohnt. Dennis Wilson trat inzwischen mit James Taylor im Kultfilm „Two-Lane Blacktop“ auf, während Brians Leben immer instabiler wurde. Die Band bestand zu diesem Zeitpunkt praktisch nur noch aus den Wilson-Brüdern, Carl und Bruce Johnston und gastweise weiteren Musikern.


