„Die Straßen sind leer gefegt, Bürgersteige hochgeklappt…“ So kann man Freising am Abend des Valentinstags ganz gut beschreiben. Die Pärchen sitzen vermutlich sich anhimmelnd irgendwo und turteln. Dafür wird es im Lindenkeller etwas gemütlicher, der Altersdurchschnitt ist um die 40, was anfangs seltsam ist, dann aber doch gefällt. Es fehlen die kreischenden Teenies, die Erste-Reihe-Groupies, die später zweifelhafte Bilder und unerfüllte Phantasien auf Instagram und TikTok hochladen. Dafür kann man Schwarzgekleidete sehen, viele mit Ohrenfeindt-Shirts, Black Sabbat, Motörhead. In der ersten Reihe stehen zwei Rollstuhlfahrer zwischen den anderen Wartenden. Statt um 20 Uhr beginnt der Abend eine halbe Stunde später, kein Support, die Hamburger lassen sich Zeit und betreten erst zehn Minuten später unter Jubel die Bühne.
Es geht los. Sofort greift das Trio ordentlich in die Saiten und bearbeitet das Schlagzeug. Nein, es wird nicht mit ihrem Über-Hit „Rock’n’Roll Sexgott“ begonnen, der im Radio öfter zu hören ist. Das macht aber nichts, denn Ohrenfeindt haben mehr Alben und noch viel mehr Gassenhauer im Gepäck, die sie in den kommenden zwei Stunden vor geschätzt 200 Leuten zum Besten geben werden.
Chris Laut, Frontmann, Sänger, Bassist, Mundharmonikaspieler und Rampensau legt los. Die Sonnenbrille verbirgt seine Augen, rundet das Outfit ab. Ein Rocker, der ein bisschen an Sons of Anarchy erinnert, an Motorradclubs, die gerne zusammenstehen, sich unterhalten bei einem Bier und am Wochenende eine gediegene Motorradtour durchs Grüne unternehmen. Es geht dabei nicht um Schnelligkeit und waghalsige Überholmanöver, die manche von ihnen nicht mehr zurückbringen, sondern um ein gechilltes Dahincruisen mit dem Blubbern der Harley. Laut singt – laut. Er schmettert seine Texte ins Publikum, das jede Zeile aufsaugt und feiert. Freiheit, tolle Gefühle, Rock’n’Roll und Sex, der Flirt mit den Mädchen und einer Stadt, die von ihren Bewohnern mehr geliebt wird jede andere: Hamburg, und dessen Herz – St. Pauli. Der Norden ist doch anders.
Während Laut zwei Saiten an seinem Bass zupft, und mehr braucht es auch gar nicht, nutzt Pierre Blesse, genannt Keule, an der Gitarre alle sechs Saiten. Er stürmt auf die Bühne, geht nach links und rechts, agiert mit dem Publikum, singt die Background Vocals – und verliert irgendwann beim Rocken sogar die Sonnenbrille. Egal, es wird weitergemacht. Harte Riffs und tolle Soloparts wechseln sich ab. Peters hat sichtlich Spaß und lässt sich gerne mal auf ein Duett mit Laut ein. Sie jumpen über die Bühne, gehen im Gleichschritt, hopsen auf einem Bein nebeneinander her. Ihre gute Laune überträgt sich auf die Anwesenden, die mitsingen, tanzen, feiern und Ohrenfeindt hochleben lassen.
Auch wenn er im Hintergrund sitzt, ist Andi Rohde nicht ab vom Schuss. Der Drummer ballert ordentlich rein, verliert hin und wieder seine Sticks, die Keule versucht mit Fußballertricks zu ihm zurück zu kicken. Der Erfolg ist mäßig. Zwischendrin isst Rohde einen Energieriegel, er lacht, singt mit, verausgabt sich richtig.
Irgendwann aber wird es ernst in Freising und Chris Laut stellt die Bandmitglieder vor, die allesamt ordentlich Applaus kriegen. Er bedankt sich beim Team des Lindenkellers, beim Ton, dem Licht, der Merchandise-Dame, bei allen, bei den Fans. Besonders aber hebt er drei Menschen an diesem Abend hervor. Der zehnjährige Xaver darf sogar auf die Bühne kommen, er ist der Jüngste an diesem Abend und hat ein Lob verdient: Schließlich braucht auch der Rock’n’Roll Nachwuchs. Außerdem ist Laut nicht verborgen geblieben, dass zwei Rollstuhlfahrer vor ihm sitzen. Während die meisten einfach zu einem Konzert gehen, müssen die und all die anderen Menschen mit Beeinträchtigungen überlegen, wie sie hinkommen, ob es behindertengerechte Zugänge und Toiletten gibt, ob sich eine Begleitperson findet und dann auch mitgehen darf und so weiter. Für die zwei gibt es Applaus und ein bisschen auch für Chris, denn es ist höchst selten und verdient Respekt, dass er weder diese zwei Fans noch die allgemeine Problematik für Menschen mit Behinderung auf Konzerten übergeht. Wertschätzung heißt das Stichwort, Anerkennung – und die haben sie verdient.
Doch anstatt gleich wieder in die Vollen zu gehen, gibt es noch zwei Herzensprojekte, für die Ohrenfeindt seit Jahren um Unterstützung bitten. Viva con Agua aus St. Pauli ist das eine. Hierbei geht es um ein absolutes Grundrecht eines jeden Lebewesens: sauberes Trinkwasser. Die Organisation wird von vielen Bands unterstützt, findet sich auch immer wieder zum Anfassen auf Festivals, um ihr Anliegen vorzustellen und Spenden für die Projekte zu sammeln. Und dann wird Laut plötzlich leise zeigt ganz viel Gefühl: Ohrenfeindt unterstützt seit vielen Jahren das Kinder-Hospiz Sternenbrücke. Hier wird unheilbar kranken Kindern und ihren Familie im Rahmen der Entlastungspflege die Möglichkeit gegeben, einmal Luft zu holen, ein bisschen Kraft zu tanken, bevor der schwere Weg weitergeht. Auch nach dem Verlust des Kindes unterstützt die Sternenbrücke die betroffenen Familien und begleitet sie durch die dunkelsten Stunden. Auf einmal ist es still geworden im Lindenkeller, was und wie Chris erzählt, das geht nahe. Er bittet um Spenden für dieses Herzensprojekt.
Kurz Luft holen, dann geht es weiter mit Rock’n’Roll. Die letzten Lieder stehen auf dem Programm. Ohrenfeindt möchte die Fans noch einmal hören, animiert zum Mitsingen und Nachsingen seltsamer Geräusche. Man hat wieder Spaß und das tut gut. Dass die Band so deutlich und offen an die Schwachen, Kranken und Sterbenden denkt, macht sie aus. Es ist eben nicht alles nur eitel Sonnenschein und laute Musik, es sind auch mal leise Töne und mehr als nur ein schnelles „Geld her“ zwischen zwei Songs. Hier ist es echte Botschaft, die von Herzen kommt und zu Herzen geht.
Ohrenfeindt gehen von der Bühne, aber das soll es doch noch nicht gewesen sein. Schnell kommen sie unter Applaus zurück, der Jubel ist groß, und jetzt bitte „Rock’n’Roll Sexgott“! Zwar fliegen immer noch keine ersehnten BHs auf die Bühne, aber gefeiert wird trotzdem.
Mit „Ohrenfeindt“ geht ein großartiger Konzertabend zu Ende. Besser kann man den Valentinstag kaum feiern. Hamburger Vollgasrock’n’Roll mit sympathischen – und empathischen – Rockern, die gerade mal seit 25 Jahren auf der Bühne stehen und versprechen, dass es noch mal so viel werden. Wir bitten darum!
Setlist
Komm schon uns hol’s Dir
Motor an
Porschekiller
So nicht
Zeit für Rock’n’Roll
Der Scheck ist in der Post
Hallo, Frau Doktor
Auf die Fresse ist umsonst
Mach die Tür zu
Spiel mit dem Feuer
Starkstrom Baby
Bum Bum Ballett
Heul den Mond an
Tanz nackt
Sie hat ihr Herz auf St. Pauli verloren
Energie
Strom
Zugaben:
Rock’n’Roll Sexgott
Betriebsfest
Ohrenfeindt
↓Galerie ganz unten↓