Das im März 1975 erschienene Album Katy Lied ist von enormer Bedeutung für die musikalische Entwicklung von Steely Dan. Es ist das erste Album, das entstand, nachdem Donald Fagen und Walter Becker das traditionelle Bandkonzept aufgegeben hatten, um als permanentes Zwei-Mann-Forschungs- und Entwicklungs-Team in ihrem eigenen privaten Aufnahmestudio-Labor zu arbeiten. Nicht länger darauf beschränkt, ausschließlich auf die Talente einer festen Bandbesetzung zurückzugreifen, hatten sie nun die revolutionäre Freiheit, für jedes einzelne Lied gezielt die Session-Musiker auszuwählen, die sie für am besten geeignet hielten, um ihre Kompositionen auf Band zu bringen. Don & Walt arbeiteten zudem weiterhin akribisch daran, ihren einzigartigen Stil zu formen und zu verfeinern, der sie von jeder anderen künstlerischen Unternehmung auf der Welt, damals wie heute, unterschied. Während die meisten Pioniere der Jazz-Rock/Fusion-Bewegung Jazzmusiker waren, die versuchten, eine harte Rock-Mentalität in ihr Metier zu bringen, machten Steely Dan das Gegenteil. Sie waren in erster Linie eine Rock-&-Roll-Band, die mutig ihre Songs mit würzigen Prisen zeitgenössischen Jazzes, sowohl klassisch als auch modern, anreicherte. Das Ergebnis ist progressive Musik, die einzigartig klingt.
Ein gutes Beispiel ist gleich das erste Stück „Black Friday“. Es beginnt mit einem perlenden Rhodes-Piano, das sich schleichend aus dem Schatten erhebt, bevor es mit dem jungen Schlagzeug-Wunderkind Jeff Porcaro gekoppelt wird, der in Verbindung mit einem treibenden Bass ein solides, treibendes Fundament hinlegt, auf dem der Song aufgebaut wird. Als Bassisten sind auf Katie Lied neben Walter Becker übrigens noch Chuck Rainey und Wilton Felder am Werk. Der prahlerische Protagonist hat es aus rachsüchtigen Gründen geschafft, die Firma, für die er arbeitet, spektakulär in den Ruin zu treiben. (Wall Street Börsen Crash, 1929) „When Black Friday comes, I’ll collect everything I’m owed, and before my friends find out, I’ll be on the road.“ kichert Fagen schadenfroh. Die heiße Gitarre, die sich durch den Song pflügt, ist herrlich frech und dreckig, und das Solo ist ein Kracher. Einer der vielen Reize dieses Albums ist die Verwendung von nicht weniger als sieben verschiedenen Gitarristen, um ihre kompromisslosen Ziele zu erreichen, sodass es eine Herausforderung für sich ist, herauszufinden, wer was gespielt hat. Walter Becker, Dean Parks, Denny Dias, Rick Derringer, Elliott Randall, Hugh Mc Cracken und Larry Carlton sind jetzt allesamt nicht gerade die schlechteste Wahl an den sechs Saiten. Oberflächlich betrachtet mag dieser feurige Track wie ein typischer bluesiger Rocksong wirken, aber wenn der Refrain einsetzt, ändert sich die gesamte Stimmung des Songs. Ein starker Opener, ohne Frage. Das exzellente „Bad Sneakers“ folgt und hat einen sanften, jazzigen Groove. Der pseudo-sitar-artige Effekt ist angenehm dezent in den Mix eingebettet, und Michael McDonalds unverwechselbare Stimme in den Harmonien der Background-Vocals verleiht dem Stück eine frische Klangfarbe. Der Song handelt aus der Perspektive einer Person, die dabei ist, den Verstand zu verlieren. „I’m going insane, and I’m laughing at the frozen rain, and I’m so alone, Honey, when they gonna send me home?“ fleht er. Das Gitarrensolo ist wieder exquisit. In „Rose Darling“ klingt Dons Stimme in ihrer Darbietung der doppeldeutigen Lyrics fast dylanesk. Ich interpretiere den Song als eine Ode an die Selbstbefriedigung. „All I ask of you, is make my wildest dreams come true, no one sees and no one knows.“ Subtilität war hier wohl keine Priorität, Jungs. Die kreative Akkordstruktur und der kraftvolle, kaskadierende Chorgesang lassen es trotzdem funktionieren.
„Daddy Don’t Live in That New York City No More“ ist eine Mischung aus R&B und 50er-Jahre-Rock, getragen von einem entspannten, mitreißenden Rhythmus. Die ‘street-wise’ Lyrics beschreiben einen Gauner, der entweder untergetaucht ist oder jetzt mit den Fischen schwimmt. „Driving like a fool out to Hackensack, drinking his dinner from a paper sack, he says I gotta see a joker, and I’ll be right back.“ Oder auch nicht. Der Höhepunkt des Albums folgt mit „Doctor Wu“, das pure, hypnotische Magie ist. Mit verlockenden Anklängen an die mystische Aura, die Jahre später auf dem Aja Album wieder auftauchen sollte, ist dieser Song einfach fantastisch. Fagens Gesang hat genau die richtige Mischung aus wehmütiger Traurigkeit, um den Hörer in die Welt eines Drogenabhängigen zu ziehen, der verzweifelt in seine Droge verliebt ist. „Don’t seem right, I’ve been strung out here all night, I’ve been waiting for the taste, you said you’d bring to me,“ klagt er, „Katy lies, you could see it in her eyes, but imagine my surprise, when I saw you.“ Der Song ist pure Poesie in Bewegung, und wenn Saxofon-Legende Phil Woods sein Instrument erhebt und leidenschaftliche Noten verströmt, schwebt das Ganze in den Himmel. Man will nicht, dass es endet. Nichts hätte diesem Meisterwerk angemessen folgen können, daher passt die leichte, karibische Samba von „Everyone’s gone to the Movies“ hier so gut. Die dunkle Seite dieses Duos liebt zwielichtige Charaktere, und dieser Song über einen Mann, der seine Freude daran hat, ahnungslosen Jugendlichen Schmuddelfilme zu zeigen, liegt genau in ihrer verdrehten Komfortzone. Es ist ein ordentlicher Mix aus Saxofon, Vibraphon und lateinamerikanischer Percussion und beinhaltet einen würzigen Rhodes-Piano-Break, die Background Vocals werden hier von Carolyn Willis, Myrna Matthews und Sherlie Matthews gesungen. Für eingefleischte Prog-Fans könnte der im Walzertakt gehaltene Song „Your Gold Teeth II“ (der beeindruckende erste Teil ist auf dem 73’er Album Countdown to Ecstasy zu finden) das Highlight des Albums darstellen. Piano, Vibraphon und Synthesizer prägen das coole Intro, und der Song versprüht eine ansteckende moderne Jazz-Atmosphäre, die unbestreitbar intelligent wirkt. Ich habe keine Ahnung, worum es in dem Lied genau geht, aber der Refrain „Throw out your gold teeth, and see how they roll, the answer they reveal, life is unreal“ ist sehr wirkungsvoll, das geschmeidige Gitarrensolo ist fesselnd und Porcaro glänzt am Schlagzeug.
Das langsame, bluesige „Chain Lightning“ lässt den Hörer fühlen, als säße er auf einem Barhocker in einem verrauchten Nachtclub, mit einem Whiskeyglas in der Hand und einer Lucky Strike zwischen den Fingern. Donald singt „Don’t bother to understand“ – und ich nehme ihn beim Wort. Gastgitarrist Rick Derringer steuert ein trotziges, spontanes Gitarrensolo bei, das die Szene perfekt abrundet. Der Tiefpunkt des Albums ist, meiner Meinung nach, „Any World (That I’m welcome to)“, das für meinen Geschmack zu geradlinig und poppig ist und keine wirklichen Überraschungen bietet. Das Schlagzeug wird hier von Hal Blaine gespielt. Lange Zeit hielt ich auch nicht viel vom abschließenden Song „Throw back the little ones“, aber das lag nur daran, dass ich ihm keine wirkliche Beachtung schenkte. Er überrascht mit zahlreichen Stil- und Rhythmuswechseln, die faszinieren, und die abstrakten Lyrics („Lost in the Barrio, I walk like an Injun, so Carlo won’t suspect, something’s wrong here.“) verstärken seine seltsame, fast meditative Wirkung. Die kurze Bläsereruption, arrangiert von Jimmie Haskel nach dem Gitarrensolo erinnert stark an Frank Zappa, und der bizarre Klavierlauf am Ende sorgt für einen wunderbaren „Was war das denn?“-Moment.
Ich war überglücklich, als die Neuauflage erschien, weil meine Vinyl-Version unter einem dünnen, leblosen Klang litt, aber die erstklassige Remastering-Arbeit auf der CD diesen tragischen Fehler weitgehend behob. Die technischen Pannen, die die Aufnahmen von Katy Lied heimsuchten, sind legendär. Fagen und Becker waren von dieser Erfahrung so traumatisiert, dass sie sich bis heute weigern, darüber zu sprechen. Doch Denny Dias‚ unglaubliche Horrorstory darüber ist auf der Steely Dan-Website nachzulesen. Steely Dan hatten sich von der zermürbenden Routine aus Album-Tour-Album-Tour, die die Plattenfirmen damals von ihren Künstlern verlangten, befreit und spielten nun nach ihren eigenen Regeln. Dieses Album ist keine typische Jazz-Rock-Kombination. Es ist überhaupt nicht typisch. Vielmehr geht es um progressive Songwriting-Kunst, die meiner Meinung nach in der Prog-Welt oft unterschätzt wird. Give it a spin!
Steely Dan – Katie Lied
A1 – Black Friday
A2 – Bad Sneakers
A3 – Rose Darlin‘
A4 – Daddy, don’t live in that New York City no more
A5 – Doctor Wu
B1 – Everyone’s gone to the Movies
B2 – Your Gold Teeth II
B3 – Chain Lightning
B4 – Any World (That I’m welcome to)
B5 – Throw back the little ones
