Konrad Lang hat ein Alkoholproblem und sich ein recht bequemes Leben auf Kosten der Familie Koch gemacht. Bei ihnen ist er aufgewachsen und als bester Freund und fast Bruder des Sohnes Thomas aufgenommen worden. Wenn Thomas Koch die Schule wechseln musste, ging Konrad mit, wenn Thomas Urlaub machte, war Konrad dabei. Einen eigenen Willen hatte er dabei nicht. Doch nun vergisst Konrad plötzlich den Weg zu seiner Wohnung und den Namen der Frau, die er heiraten will. Konrad halt Alzheimer – und erinnert sich plötzlich an seine Vergangenheit, was Elvira Senn, Thomasens Mutter auf den Plan ruft, die genau das verhindern möchte…
Martin Suter hat ein sehr einfühlsames Werk verfasst, das sich gut mit dem Vergessen und der Krankheit auseinandersetzt. Dabei gelingt es ihm, die Hilflosigkeit der Menschen um Konrad in Worte zu fassen und aufzuzeigen, dass man recht schnell an seine Grenzen stößt, wenn ein geliebter Mensch an Alzheimer erkrankt und plötzlich vergisst. Ängste aus Kindertagen werden wieder real und Erinnerungen werden wach, die man lang verdrängt hatte. Sicherlich spielt dabei auch der Alkoholkonsum Konis eine wichtige Rolle, der vielleicht gar nicht so tragisch-zufällig begonnen hat, wie man zu Beginn glauben möchte.
In der Erzählung dominiert Elvira Senn, verwitwete Koch, Leiterin der renommierten Koch-Werke, die diesen guten Ruf um jeden Preis erhalten möchte. Während ihrem Sohn auch dem Verwalter des Vermögens schleierhaft bleibt, warum sich Elvira so sehr um Konrad sorgt und seine Krankheit mit wachsender Angst verfolgt, fällt bald auf, dann Konrad im Grunde ein armer Mensch ist, ohne freien Willen, der sein Leben lang nur Mitläufer war und ein netter, gerade passender Kamerad für den Sohn Thomas. Elvira scheint aber ein Geheimnis zu haben, dem man erst auf den letzten Seiten des Buches auf den Grund kommt.
Mit viel Spannung ein Einfühlungsvermögen, beschreibt Suter nicht nur eine tragische Krankheit, sondern auch das Schicksal eines Menschen, der nie selbst über sich und sein Leben entscheiden durfte und immer nur abhängiger Spielball der Familie Koch gewesen ist. Alzheimer ist hier wie eine schmerzhafte Zusammenfassung seines Lebens. Der fehlende freie Wille wird in der Person Konrad Lang manifestiert, wird er doch nun erst recht hilflos und ist stets auf Betreuung angewiesen, je weiter die Krankheit fortschreitet. Wäre nicht Elviras Schwiegertochter Simone, vernachlässigt von ihrem Mann und totunglücklich, die aus Mitleid mit Konrad darauf besteht, dass sich um diesen finanziell wie medizinisch gekümmert würde, wäre Konrad bereits abgeschrieben und vergessen in einem Heim, in dem er sich nie wohlgefühlt hatte. Doch Simone wird dadurch gefährlich für die Familie Koch und das bekommt sich auch bald zu spüren.
Es lohnt sich sehr, zwischen den Zeilen zu lesen und auf die versteckten kleinen Hinweise zu achten. Dabei wird rasch klar, wie klein die „Small World“ von Konrad Lang wirklich ist und in welchen Mauern er sich zeitlebens befand. Ein künstlich errichtetes Gefängnis, das ein Menschenleben einsperrte und drastisch bestimmte. So zeigt sich, dass Geld die Welt regiert und man manchmal absolut machtlos ist. Am Ende hat das Vergessen dann aber doch seine Vorteile, werden dadurch doch alte Erinnerungen geweckt und manches für immer unter den Teppich gekehrt.
Martin Suter hat ein spannendes Buch geschrieben, geleitet von einer tragischen Hauptfigur, mit der man recht bald mitleidet. Eine lesenswerte Geschichte über eine unaufhaltsame Krankheit, eine seltsame Liebe und eine spannende Intrige.
Martin Suter ist Schweizer und lebt in Spanien. Er arbeitete bereits als Werbetexter, Drehbuchautor und Kolumnist und hat dabei eine subtile Ader, die er gerne in seine Bücher einfließen lässt. Unter anderem erschienen: „Die dunkle Seite des Mondes“, „Der Koch“, „Lila Lila“ und „Ein perfekter Freund“.
5/5
—
Martin Suter – Small World
Diogenes Verlag, 1999
336 Seiten
Taschenbuch: 10,90 €
eBook: 9,99 €
Amazon
Diogenes Verlag