Ein düsterer Blick aus der Vergangenheit
Karen Stever ist eine Frau, die es geschafft hat aus ihrem Alltag auszubrechen, die Tristesse weitgehend hinter sich zu lassen und die hofft, mit ihrer Musik auch anderen dabei zu helfen. Ihr Schlüsselmoment war als ihr klar wurde, dass wir mit unserem getakteten Leben, dem Korsett von Verpflichtungen, Terminen usw., kurz, dem, was ein Erwachsenenleben ausmacht, nur schwer zufrieden oder gar glücklich sein können. Die logische Folge war eine Rückbesinnung auf die Kindheit. Natürlich war damals nicht jeder Moment schön und jedes Kind, dem diese Zeit durch irgendwelche Unglücke oder andere widrige Umstände genommen wurde, ist eines zu viel. Karen will das innere Kind ansprechen, erwecken, aufzeigen, dass es gut ist zu spielen, ab und an loszulassen. Momente der Freude gegen den Druck der Gleichförmigkeit, und wenn es geht auch mehr. Sie hat auf diesem Weg zu ihrer Kreativität gefunden und ihr Leben um mehr als nur einen Aspekt ergänzt. Wer will, kann nun das seine mit dem Ergebnis ihres schon philosophisch zu nennenden Schaffens bereichern.
Dabei gibt es auf Wunsch eine persönliche Note. Karen macht sich die Mühe, jede bei ihr bestellte CD mit Widmung zu versehen und zu signieren.
Die Musik ist im Großen und Ganzen rockig, wird aber immer wieder durch Tempowechsel, den Gebrauch unüblicher Klänge und ähnlichem ergänzt. Ebenso ist Karens Stimme nicht immer gleich und unterstreicht so manches Mal das Gesungene mit einer trotzigen, einer aggressiven oder anderen Note.
Allerdings ist die Ideen dahinter weit größer. War die erste CD Playground Isolater! Noch eine „übliche“ Ansammlung von Liedern, wenn auch mit tieferer Botschaft, so ist Idiot Savant auf einer umfassenderen Idee aufgebaut und setzt sich fort. Schon für die Fotos auf dem Cover und im Booklet entstanden Marionetten, die nun in den Videos Verwendung finden. Ein weiterer Bonus sind die Making Ofs zu verschiedenen Details, wie z.B. die virtuelle Tour durch das von Frank Gryner animierte Gebäude, in dem der nächste Clip spielen wird (Hinweis: einige der Videos finden sich (noch) nicht auf ihrer Seite, dafür aber bei Facebook). Karen gibt sehenswerte Einblicke in ihre Gedankenwelt und ihr Schaffen, die das Interesse und das Vergnügen, sich mit ihrem Werk zu beschäftigen, schon alleine deshalb immer wieder neu entfachen, weil deutlich zu sehen ist, wie viel Energie, Herzblut und Spaß in diesen Arbeiten steckt.
Die gesamte CD Idiot Savant basiert auf der fiktiven Figur eines Neunjährigen namens Ian, der in den 30er Jahren aufwächst. Er hat einen besonders guten Draht zu Tieren und sieht aus seinem Blickwinkel nicht nur anders, sondern meist mehr als die durch die Welt hetzenden Erwachsenen. Leider mit für ihn sehr negativen Folgen. Seine kindliche und darum ignorierte Weisheit wird ihm in Verbindung mit der ihn umgebenden Idiotie zum Verhängnis. Das Unverständnis gegenüber so manchem Kind wird hier auf drastische Weise erzählt und der Hörer hat die Möglichkeit, die eigene Kindheit, den persönlichen Umgang mit Kindern und den gesellschaftlichen Blickwinkel zu reflektieren – hoffentlich mit persönlichem Gewinn auf mehr als nur einer Ebene. Genug gespoilert, widmen wir uns der Geschichte.
Die Geschichte beginnt mit einem Jahrmarktsbesuch. Die Einleitung ist durch ein nach Drehorgel klingendes Keyboard passend. Eigentlich sollte sich Ian freuen, aber „er“ klingt eher unwillig und genervt. Schon auf der Hinfahrt fühlt er sich unwohl, so als würde er nicht dazugehören. Überall erkennt er das vorhandene Schlechte und es ist für ihn einfach nur Green. Aus der Musik ist längst die Fröhlichkeit einem beklemmenden Gefühl gewichen. Die vorbeiziehenden Karussellpferde sehen für ihn martialisch aus und als er sieht, wie ein Kutscher ein lebendes Pferd auspeitscht, ist er schier am Verzweifeln, weil er nichts dagegen machen kann.
Scatterbrain beginnt ungeduldig, ein Eindruck, der sich sowohl in Musik als auch Gesang widerspiegelt und durchzieht. Zuerst scheint es Ians Phantasie zu sein, die sich mit einem Mausloch beschäftigt, dann geht es immer mehr um Forderungen, die der Alltag an uns stellt, angefangen bei der beständig tickenden Uhr bis hin zu der Aussage, das Leben sei kein Puzzle, sondern ein Mysterium für die Menschen.
Das Lied Idiot Savant stellt Praktiken der damaligen Sanatoriumsheilkunst und deren Erfinder vor und geht dazu über, das Wegsperren sowie den Umgang mit den damals so bezeichneten Idioten anzuprangern. Inwieweit diese Kritik auf heute gemünzt ist, bleibt offen, kann aber aus dem allgemeinen Tenor der CD und dem Ansatz geschlossen werden. Das Klavier eignet sich hervorragend eine bedrückende Stimmung zu erzeugen, die auch in den volltönenderen, rockigen Passagen beibehalten wird. Ein kurzer Versuch zu entkommen klingt fröhlicher, scheitert allerdings und das Stück endet wie es begann.
Ian, der nun in der eben beschriebenen Nervenheilanstalt sein Leben fristet, findet eine Freundin in Form der Puppe Serinetta. Verspielt und ruhig plätschert der Song dahin und gibt etwas Frieden, auch wenn sich Ian beobachtet und ungerecht behandelt fühlt, sich manchmal sogar ein wenig wehrt.
Elektrische Gitarrenklänge, unterstützt durch einen sanft gezupften Bass, versprechen ein schnelleres Stück. Das Nest einer Krähe befindet sich in einem ausgedientem Wagen, dem Juggernaut. Es ist in Gefahr und Ian fiebert mit der Krähenfamilie mit.
Aus dem Fenster blickend wird ein Eichhörnchen beobachtet, wie es sich Verstecke sucht. Es scheint Personen zu geben, denen die Geräusche, die das Tier beim Poking Holes verursacht, nicht gefallen. Ian kann das nicht verstehen, denn er ist fasziniert von der Brillanz des Vorratssammlers. Am liebsten würde er hinausgehen und helfen. Wieder mit dem Klavier beginnend, wird die Musik lebhafter, bleibt aber bis auf eine kurze Sequenz unaufdringlich. Eigentlich schade, dass der Nusssammler so träge bleibt.
Wie nicht anders zu erwarten, hätte Ian nichts dagegen, aus der Anstalt fliehen zu können, aber leider ist da die Krankenschwester. Er erhofft sich Hilfe von den Spinnen, denn die waren auch schon früher für ihn da, wachten über ihn wenn er im Garten übernachtete. Der Gedanke an die Zeit näher an der Natur gefällt ihm, obwohl er sich gleichfalls an eine Person erinnert, die ihn als zurückgeblieben bezeichnet hatte, nur weil er mit den Krabbeltieren sprach. Als Blackguard wartet er allerdings noch auf den passenden Moment für seine Flucht. Der Jahrmarktsmusik folgt ein dramatischer Anklang, der im Folgenden überwiegt, sich allerdings mit auf dem Gehörgang trippelnden Noten abwechselt.
Fulminant geht es weiter. Ein druckvolles Lied, welches erst gegen Ende ruhiger wird. Es wird die alte Frage aufgeworfen, warum die Mächtigen ihre Macht meist nur zu ihrem eigenen Vorteil nutzen und nicht, um die Welt im Allgemeinen zu verbessern. Vielleicht wäre es wirklich mal wieder Zeit für einen Jacquerie.
Im nächsten Teil erfahren wir anscheinend etwas über Ians Mutter und ihr Schicksal. Außerdem gibt es eine Lektion zum Thema Selbstverleugnung. Mama war eine burleske Marionette, deren Fäden etwas ausgeleiert waren, so dass ihr Kopf zumeist nach unten hing. Sie unterhielt die Truppen und war jemand, denn sie war beliebt. Es musste nur darauf geachtet werden, dass sie nie einen Blick in den Full Length Mirror werfen konnte, denn sonst hätte sie den Sprung gesehen, der sich der Länge nach ausgebreitet hatte. Musikalisch ist das Milieu gut getroffen und mit einem satteren Sound aufgepeppt.
Anscheinend nicht ganz zum Alter von unter zehn Jahren passend, erzählt das nächste Lied von der Lieblingsgefährtin und deren hinterwäldlerischen Verwandtschaft. Vielleicht ist Ian erwachsener geworden oder Wee Bonnie Parker ist ihm ein paar Jahre voraus, denn sie fährt Auto und hantiert mit Schusswaffen. Was an sich ganz lustig klingt, wird gekonnt vom Klavier konterkariert und zu einem getragenen, traurigen Stück. In der Mitte setzten kurzfristig die anderen Instrumente ein, bevor das Piano den Ausklang übernimmt.
Virtuoso setzt wieder auf die üblichen Instrumente und hat einen fast orchestralen Touch. Variationen zeigen sich besonders in Karens Ausdrucksweise und durch den Hintergrundchor der „Ist es nicht schön?“ singt. Hier schließt sich der Kreis und der Junge, dessen Schicksal sich auf einem Jahrmarkt eine Wendung gönnte, lernt die Welt der Illusionisten, der Oper und der Konzerthallen kennen.
Zum Ende eine schöne Beschreibung der Faszination Eisenbahn mit Kohle, Wasserdampf und quietschenden Geräuschen. Crushing Copper gefällt Ian und er macht sich auf in ein hoffentlich besseres Leben. Ruhig und besinnlich rollt der Song dahin, dominiert von einer akustischen Gitarre und Karens Stimme.
Die Geschichte eines Neunjährigen sollte nicht derart traurig sein. Fraglich, ob Karen die dunklen Töne einfach besser liegen oder ob es die Themen sind, die ihr Schaffen entsprechend einfärben. Nach der Ankündigung, ihre Musik solle motivieren, war die Erwartung anders, freundlicher, weniger bedrückend, auch wenn sich ein Happy End erahnen lässt.
Nichtsdestotrotz bringen die Songs viel rüber, regen zum Nachdenken an und rücken einiges in den Fokus, was auch heutzutage leider immer noch aktuell und diskutabel sein sollte. Allein darum eine hörenswerte CD und in der richtigen Stimmung etwas zum Genießen.
4/5
Anspieltipp: Blackguard
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Karen Stever – Idiot Savant
Nur über ihre Homepage
Tracklist:
Green
Scatterbrain
Idiot Savant
Serinetta
Juggernaut
Poking Holes
Blackguard
Jacquerle
Full length mirror
Wee Bonnie Parker
Virtuoso
Crushing Copper