Portrait: Tommy Flanagan – Ein Schotte erobert Hollywood


Narben zeichnen ein Gesicht und zeugen von einem brutalen Überfall. Wer die Serie Sons of Anarchy gesehen hat, kam an Filip „Chibs“ Telford nicht vorbei, der seinen Serienspitznamen dem Glasgow Smile verdankt. Umso seltsamer ist es, wenn man erfährt, dass die Narben keine Schminke sind, sondern echt und das Gesicht des Schauspielers seit fast 30 Jahren zieren. Die Rede ist von Tommy Flanagan, der mit dem gleichnamigen Musiker recht wenig gemein hat. Am 3. Juli 1965 in Glasgow, Schottland geboren, prägte die Umgebung seinen starken Akzent, der ihm mittlerweile immer wieder Rollen beschert, die ihn eindeutig als Schotten, manchmal auch Iren deklarieren – nun ja, mit dem Akzent kann er auch schwer etwas anderes sein. Tommy war das mittlere von fünf Kindern und hatte es im Glasgow der 1960er und 1970er Jahre nicht leicht, wenn man den wenigen verfügbaren Schnipseln im Netz Glauben schenken kann. Hinzu kam der fehlende Vater, der die Familie 1971 verließ. Dieser verstarb 2002.

Wer die schottische Stadt kennt, weiß um ihren Charme, ihr Eigenleben und die eigenen Gesetze, die dort herrschen, gerne mal rauer, gewalttätiger, bedrohlicher – und dennoch ist die größte Stadt Schottlands und drittgrößte Stadt von UK immer eine Reise wert. Zurück zu Flanagan, von dessen Kindheit, Jugend und Twens recht wenig bekannt ist. Das mag daran liegen, dass der heranwachsende Tommy gar nichts im Sinn hatte, was mit Film und Berühmtheit zu hatte. Er liebte die Musik und wusste aufgrund der schwierigen familiären Situation, dass er recht schnell auf eigenen Beinen stehen und Geld verdienen muss. Er verdingt sich in den ersten Jahren als Maler und Dekorateur, entdeckt seine Liebe zur Musik und stellt fest, dass diese Liebe auch ihren Preis hat. Wer kein Kind der 2000er ist, weiß, wie lange wir auf Schallplatten, Cassetten und CDs gespart haben, weil man eben nicht schnell online gehen und sich die gewünschte Musik ziehen konnte. Man kann bei der 1960er Generation oftmals davon lesen, dass das ganze hart ersparte Geld in Schallplatten floss und man diese hütete wie sein Augapfel. Hinzu kommt, dass Vinyl einfach anders ist und ein musikalisches Erleben bereitet, an das weder die CD noch die digitalen Versionen herankommen (von letzteren wusste man damals noch nichts). Hinzu kommt – und was wissen nur die Vinylhörenden -, dass Anfang der 1990er Jahre die CD alles andere platt gemacht hat und man 1991/1992 nur noch wenige Schallplatten bekam. Das machte und macht sie heute noch, rar und auf ihre Weise wertvoll.

Quelle: http://www.facebook.com/SonsofAnarchy/photos vom 11.11.14, abgerufen am 25.10.18

Flanagan begann, nebenbei als DJ zu arbeiten, was ihn nicht reich machte, aber anscheinend doch glücklich. Ohne Laptop, ohne diese Silberlinge, noch richtig echt mit Vinyl, die Cover irgendwann abgenutzt, die Platten mit den kleinen Blessuren, auch wenn man sie hütete wie seinen Augapfel. Das waren noch DJs, das war noch Auflegen und Musikerleben der alten Schule, die der spätere Schauspieler anscheinend ziemlich mochte. Bis zu einer verhängnisvollen Nacht, die sein Leben fast beendet hätte. Auf dem Nachhauseweg mit seinen Platten unterm Arm (ein bisschen wildromantisch interpretiert, zugegeben), begegnete der Twen im nächtlichen Glasgow Menschen, die es auf die Platten, Geld und seinen Mantel abgesehen hatten. Er verteidigte alles und bezahlte dafür fast mit seinem Leben – auf jeden Fall aber mit seinem unversehrten Aussehen. Die Gangster fügten ihm Schnitte von den Mundwinkeln in Richtung der Ohren zu, ein sogenanntes Glasgow Grin oder Smile, das nicht zuletzt durch Batmans Widersacher Joker einen hohen Bekanntheitsgrad erzielen konnte. Im Krankenhaus und mit der Realität konfrontiert, zwar überlebt zu haben, aber für immer auf eine gewisse Art entstellt zu sein, verlässt Flanagan der Lebensmut. Er denkt, nie wieder so leben zu können, wie er das bisher getan hat. Die Perspektiven bleiben aus und wer mag ihm das verdenken nach diesem Erlebnis. Doch sein Freund Robert Carlyle, bekannt aus zahlreichen Filmen wie Trainspotting, The Beach, Hitler – Aufstieg des Bösen oder 28 Weeks later konnte ihn schließlich überzeugen, es wie er mit der Schauspielerei zu versuchen. Die Entscheidung fiel dem ehemaligen Maler alles andere als leicht. Er zögert lange, entscheidet sich dann doch dazu, ans Raindof Theatre zu gehen, das 1990 von Carlyle und Alexander Morton in Glasgow gegründet wurde. Drei Jahre schlägt sich Flanagan tapfer mit kleinen Rollen in örtlichen Filmen, TV-Serien und auf der Bühne beispielsweise in MacBeth und Einer flog über’s Kuckucksnest (im Übrigen könnte Flanagan auf der Bühne in einem Shakespeare-Stück die beste Besetzung ever sein. Leider wird das wohl aber Wunschdenken bleiben). Hier entdeckt ihn Mel Gibson und engagiert ihn für Braveheart. Bald ist Gibson von Tommys Leistung so angetan, dass er die Rolle des rebellischen Morrison ausweitet und eine weltweite Beachtung für Flanagan ermöglicht. Es folgen zahlreiche Blockbuster wie Face/Off, The Saint, The Game, Gladiator, Sin City und viele mehr, in denen der Schotte zwar Nebenrollen besetzt, durch sein Aussehen jedoch punkten kann. Die Rollen sind brutal, rachsüchtig, gemein und machen aus der schrecklichen Nacht und der daraus resultierenden Narben ein Markenzeichen.

In Gladiator spielt er an der Seite von Russell Crowe dessen Verbündeten Cicero, der später erhängt wird. Er sticht sofort durch sein Gesicht heraus und auch wenn er keine lange Rolle hat, kann er doch überzeugen. Man nimmt ihm sowohl den ergebenen Diener ab, als auch den im Hintergrund gegen die Tyrannei Kämpfenden. Bei Sin City verhält es sich anders, erlangt Flanagan als Brian nicht gerade Sympathiepunkte. Er wirkt zwar wie der etwas irre Gangster, zeigt sich von einer anderen Seite als beispielsweise in Gladiator, punktet hier aber auch durch seine Wandelbarkeit. Der Schurke, der dem toten Cop den Kopf abschneidet und schließlich wahnsinnig mit teuflischem Grinsen von seinen geliebten Handgranaten schwärmt, scheint ihm zu stehen. Auch hier werden Herkunft (der Schotte wird oft als Ire verkauft, was nur Einheimische und Wissende sprachlich wirklich unterscheiden können) und Slang gekonnt eingebaut, als er zu Dwight sagt: „Never give an Irishman a cause for revenge.“ – Und genau das zieht sich immer wieder durch die Rollen. Der Schotte ist gerne mal der Rächer, wenngleich auch in der kleinen Rolle, der etwas erlitten hat, das ihn verletzt oder eben so richtig wütend gemacht hat. Dabei braucht der Zuschauer keine Geschichte, man muss nicht viel mehr ins Drehbuch einbauen, denn sein Äußeres unterlegt seine Worte und gibt den Grund an, wofür er Rache möchte. In einem der schlechtesten Horrorfilme ever – Unbekannter Anrufer – mimt er den Bösen, der aus unerfindlichen Gründen eine Babysitterin stalkt und töten möchte. Lange Zeit hört man ihn nur atmen und dann wenige Sätze sprechen, sieht ihn als Schatten durchs Haus gehen. Flanagan könnte bis kurz vor Ende sogar durch eine Puppe ersetzt werden, es wäre egal. Aber dann kommt ein einziger Take, der plötzlich der Geschichte einen kurzen, leider nicht ausgeführten Grund gibt: Der Stalker und mutmaßliche Mörder wird im Polizeiauto sitzend beleuchtet. Man sieht zum ersten Mal das Gesicht, ein Licht-Schatten-Spiel, das sowohl einen irren, mordlustigen Blick zeigt, als auch seine Narbe. Das Bild ist gewaltig und ausdrucksstark (rettet den Film aber nicht).

Als Bleda, dem Bruder von Attila, stellt er in der Miniserie (andere nennen es Film) den von Neid und Missgunst zerfressenen Widersacher dar. Die Geschichte ist alt, die Fresse, die Flanagan zieht, lässt einen annehmen, er sei wirklich der hassende Bruder. Ein bisschen genervt von der Langhaarperücke, die er ungeschickt immer wieder aus dem Gesicht streicht, geht er zwar fast ein bisschen unter, könnte aber kaum besser besetzt sein. Eigentlich ist es schade, dass man Flanagan so selten lachen sieht. Auch in Smokin‘ Aces, Hero Wanted (der skrupellose Gangster) oder Luster (genial gespielt, eine Mischung aus Veteran und Penner in versiffter Hose, heruntergekommen, dreckig und sich für nichts zu schade, ein bisschen irre und wahnsinnig) ändert sich das wenig. Als der Schotte das Angebot für Sons of Anarchy annimmt, öffnet sich ihm die Welt und er erhält breite und längst überfällige Aufmerksamkeit. In der Serie kann er sein Können beweisen und zeigen, was in ihm steckt: Der Hassende, der Rachsüchtige, aber auch der Liebende, der Sorgende und der gute, verständnisvolle Kumpel mit Herz, Verstand und Tränen. Hier kann der Schauspieler sich selbst beweisen und verschiedene Facetten glaubhaft rüberbringen. Der Charakter des Filip „Chibs“ Telford (den Spitznamen hat er auch wegen seiner Narben, wie erklärt wird) macht eine Entwicklung durch, die wenig aufgesetzt wirkt, was sich auch an der äußeren Veränderung bemerkbar macht. Dass das Team hinter der Kamera anscheinend sehr gut zusammenpasst, zeigt sich auch vor der Linse. Nach dem Erfolg ist Flanagan mit kurzen Auftritten in anderen Serien vertreten und hat eine weitere Paraderolle in Winter, in dem er einen verzweifelten Maler mimt, der nach dem Tod seiner geliebten Frau einen Weg finden muss, für die beiden Söhne ein liebender Vater zu sein und seinen Schmerz zu verarbeiten. Die Hauptrolle ist tragisch und intensiv. Tommy lebt den Schmerz, die Verzweiflung, die Angst vor der Leere aus. Leider ist der Film ziemlich unbekannt und wird nicht mal im Wikipediaartikel aufgeführt. Egal wie die Story auch sein mag, der Schauspieler überzeugt einmal mehr mit einer soliden Leistung. Übrigens ist es seine erste Hauptrolle, die hauptsächlich im Vereinten Königreich bekannt ist. Wild for the Night erinnert stark an den SOA Charakter. Der rächende, seine Tochter beschützende Daddy, ähnliche Kleidung, ähnliches hartes Auftreten. Im Film ist außerdem Emilio Rivera zu sehen, den SOA-Fans als Anführer der Mayans kennen. Nichts Besonderes, nichts Bekanntes, ein Tanz-Mystery-Action-Streifen, dessen Mischung man entweder gut findet oder dämlich. Running Wild ist etwas für Pferdefreunde, die ein Herz für die tragischen Hollywoodknackifiguren, ein bisschen Drama und den SATC-Samanthas Toy Boy Jason Lewis haben. Flanagan spielt an der Seite von Sharon Stone, die ihre Ranch retten will, indem sie Straftätern bei der Rehabilitation in einer Art Pferdetherapie helfen will. Eine starke Rolle zwischen Brutalität und Gefühl – ebenfalls ein Film, der noch nicht nach Deutschland vorgedrungen ist. Aber Flanagan steigt stetig auf. So spielt er in Guardians of the Galaxy II mit, an der Seite von Hunnam in der Neuverfilmung von Papillon und hat noch einige andere Filme in der Pipeline.

Quelle: http://www.facebook.com/TheBalladofLeftyBrown/photos vom 21.12.17, abgerufen am 25.10.18

Ein weiterer Geheimtipp: The ballad of Lefty Brown, ein passabler Western, der nur auf DVD erschienen ist. Flanagan spielt den Marshall, der erneut dem Alkohol verfällt ziemlich überzeugend. Das kann er eben, den etwas leidenden Charakter, der seine Frau verloren hat und in sich diese tiefe Trauer trägt, die er hier etwas später erneut zusammen mit zerstörtem Vertrauen in Alkohol ertränkt. Kleiner Kritikpunkt dennoch: Ein bisschen betrunkener hätte er agieren müssen, aber das will ich ihm mal nachsehen. Teilweise wirkt es, als sei er gebremst (worden) in seinem Spiel, nicht nur in dieser Szene. Weitere Filme in der Pipeline: 3 Way Junction, Adolescence, Killers Anonymous, The Wave, The Jesuit (an der Seite von Ron Perlman) und einige mehr. Langsam kommen die Hauptrollen, die Aufmerksamkeit wächst. Die Rollen sind gerne ähnlich, aber was macht das schon, wenn man sie so gut spielen kann?

Flanagan trägt sein unfreiwilliges Lächeln mittlerweile ohne Groll und sagt von sich selbst, dass er die Narben gar nicht mehr sehe, wenn er in den Spiegel schaue. Vielmehr nehme er sie als etwas Natürliches wahr, wie Falten. Der Schotte ist angekommen, kann sich mit weiteren Rollen in das Gedächtnis der Zuschauer spielen, ohne dabei in die erste Liga der well-known Superstars aufzusteigen. Die Schauspielerei liegt ihm im Blut. Man nimmt ihm seine Rollen ab und Flanagan schafft es, den Zuschauer in Bann zu schlagen – was natürlich auch immer an Regisseur und Kamera liegt, die den Schauspieler ins rechte Licht rücken müssen, aber zuletzt muss er dann doch selbst überzeugen. Stets hat man das Gefühl, der mittlerweile 53-Jährige lebe die Figuren, die er mimt. Durch ausdrucksstarke Augen, die (s)eine leidvolle Geschichte erzählen, zwei Narben, die ihn zu etwas Besonderem machen und seine Intensität im Spiel ist Tommy Flanagan mittlerweile eine absolute Ausnahmeerscheinung des Films geworden. Seine Kollegen arbeiten gerne mit ihm zusammen, seine Fans lieben ihn (was Fans nun mal so tun) und er selbst hat seinen Weg gefunden.

Auch Korn-Fans kennen ihn mittlerweile, hat er doch als ein düsterer Sweeny Todd-Poe-Verschnitt im Clip zu „Rotting in vain“ mitgewirkt. In der Neuverfilmung von Papillon spielt er an der Seite seines SOA-Kollegen Charlie Hunnam, der selbst angibt, von Flanagan begeistert zu sein und diesen vor vielen Jahren gestalkt zu haben, um ihn zu einer Zusammenarbeit zu bewegen. Daraus sei eine tiefe Freundschaft entstanden.

Flanagan lebt mittlerweile in Malibu mit seiner dritten Ehefrau (die er vergöttert) und seiner Tochter (die er nicht minder vergöttert), vermisst aber seine Heimat und bevorzugt das regnerische Glasgow. Nach eigenen Angaben telefoniert er täglich mit seiner Mutter. Er liebt Tiere und scheint einer der wenigen Freunde des alten Schlags zu sein, auf die man sich hundertprozentig verlassen kann. Außerdem hat er eine ganze Menge zu sagen und tut seine Meinung und politischen Ansichten lautstark in den sozialen Netzwerken kund. Dabei schreit er auch lautstark nach Gerechtigkeit. Tommy Flanagan, der Schotte, ist ein bemerkenswerter Charakterdarsteller, dem noch einige Hauptrollen im Repertoire fehlen, dem die Filmwelt aber offen steht – und der zeigt, wie man aus einem scheinbaren Makel ein Markenzeichen macht.

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