Die Backstage Halle platzt aus allen Nähten. Es ist heiß, stickig und viele drängen nach vorne in die ersten Reihen, wollen den beiden Bands ganz nahe sein, kreischen sowohl Lost Area als auch Lord of the Lost an, als gäbe es kein Morgen mehr. Ein bisschen irritierend ist es, aber schnell merkt man, dass man das total gut finden muss – sonst gehen alle auf einen los. Dennoch bin ich nicht die einzige, die sich daran stört und sich zu einem Kommentar hinreißen lässt. Auf der anderen Seite zeigt das aber ganz deutlich, wie stark Lord of the Lost an Bedeutung und Fans gewonnen haben. In den ersten Reihen kreischen nämlich nicht nur diejenigen, die die Hamburger seit einigen Jahren kennen und bereits Konzerte besucht haben, als nur 50 oder weniger Leute vor der Bühne standen. Darauf komme ich aber später noch einmal zurück.
Zu Beginn wird es dunkel, Mönche gleiten über die Bühne, tragen Kreuze, wirken ernst und läuten das Konzert ein. Nach und nach erscheinen die Musiker dort oben, nehmen ihre Plätze ein und dreschen kurz darauf los. Viele Augen sind auf Tobi Mertens gerichtet, der seine erste Deutschlandtour mitmacht und überraschend Christian „Disco“ Schellhorn zu Beginn des Jahres ersetzt hatte. Mertens ist ein musikalisches Wunderkind, das bereits im zarten Alter von neun Jahren „Jugend musiziert“ gewonnen hatte, aber nicht in die nächste Runde kam, da er zu jung war. Kann er was? Ist er ein würdiger Ersatz? Jeder, der Lord of the Lost ein bisschen kennt, weiß, dass Chris „Lord“ Harms nie einen 08/15-Drummer in die Band geholt hätte und dass es nicht nur Legenden sind, die sich um den neuen Schlagzeuger ranken. Kann man erkennen, ob ein Schlagzeuger gut ist? Ja, das kann man sogar, auch als Laie – und Mertens ist gut. Man merkt, dass er sich seinen Platz in der Band erkämpfen und diesen dann vor allem behalten möchte – wobei es wohl nie am Können scheitern wird! Mit viel Konzentration und Hingabe spielt er seine Rhythmen, drischt auf die Becken und Trommeln ein, gibt ordentlich Wums in die Songs und kann am Ende vor der Zugabe sogar mit einem soliden Drumsolo punkten – etwas, das man bisher bei Any und Disco vermisst hatte, die beiden hatten nie diese Zeit bekommen. Tobi wird bejubelt und sofort angenommen. Schließlich kennt man ihn durch die vorangehende Tour schon ein bisschen, war er da doch meist hinter dem Merch-Stand anzutreffen und immer gutgelaunt für ein Schwätzchen zu haben.
Aber nicht nur der Drummer ist gut drauf, auch die restlichen Bandmitglieder geben wie gewohnt alles. Class Grenayde beackert seinen Bass und headbangt dabei erstklassig. Er bringt so eine gute Stimmung ins Publikum, fordert ohne Worte zum Mitmachen auf und zieht seine eigene, kleine Show ab, passend zum Gesamtbild und vor allem mitreißend. Zwischendurch ein Lächeln, ein Klatschen, das den Zuschauern gilt, oder auch der Seitenwechsel mit Kollege Bo Six, dem Gitarristen. Bo ist auch gewachsen, nicht nur musikalisch – wenn man das überhaupt noch heraushören kann, denn der Musiker hatte schon immer einiges drauf. Auch seine Bühnenpräsenz hat sich noch einmal verfeinert. Er steht nicht mehr die meiste Zeit spielend am Rande und geht nur manchmal vor, er wirkt viel präsenter, bewegt sich mehr, ohne Unruhe reinzubringen, stellt sich nach vorne, feiert mit den Fans. Auch wenn Gared Dirge weiter hinten steht, da er den Platz für seine Instrumentenvielfalt benötigt, bekommt man auch von ihm einiges mit.Einmal mehr spielt er sich in die Herzen der Zuhörenden und beweist, dass es langweilig ist, nur ein Instrument zu beherrschen. Natürlich steht Harms wie immer im Mittelpunkt, das ist ja bei den meisten Sängern so. Und doch merkt man schnell, dass auch er nicht mehr ganz der Alte ist. Etwas hat sich verändert und während ich noch überlege, woran das nun wirklich liegt, preschen Lord of the Lost mit ihren Songs vor, ein beliebter Song jagt den nächsten, bringt die Halle zum Toben und lässt das Publikum schier durchdrehen. Es wird gesungen, getanzt, geheadbangt, geklatscht, geschrieen, gefeiert. Auch die „Ausziehen!“-Rufe sind wie üblich vorhanden, doch diesen kommt keiner mehr so wirklich nach. Die Nacktheit gehört zumindest in München der Vergangenheit an. Sind Lord of the Lost nun ernster geworden? Ja und nein.
Nein, da sich viele Musiker entkleiden, weil es auf der brütend heiß ist und es einfach nicht mehr auszuhalten, in voller Montur abzurocken. Nein, weil es irgendwie ja doch immer noch „unsere“ Jungs sind, die da oben stehen, performen und ihre Show abziehen. Ja, weil die Fünf eine Show abziehen, die anders geworden ist, erwachsener. Vielleicht hat die Tour durch die USA einen gewissen Aufschwung gegeben, auf jeden Fall aber hat der Sprung über den Großen Teich die Band verändert. Dort ticken die Uhren und die Fans ein bisschen anders, Konzerte sind anders, das Feeling nicht das selbe. Es war ein Erlebnis für Harms und seine Band – und es hat Spuren hinterlassen. Plötzliche fällt mir auf, wie sehr sich die Band weiterentwickelt hat, in ihren Gesten und Worten, in ihrer Musik und dem ganzen Auftreten. Aus der kleinen Band ist eine Brachialgewalt geworden, die immer größere Hallen füllt und mehr und mehr Leute begeistert, die mitfeiern und kreischend in den ersten Reihen stehen. Wenn sie jetzt keinen Fehler machen, haben Lord of the Lost in einigen Jahren den Status einer großen, bekannten Band erreicht. Es ist schön zu seine, wie sehr sich die Band entwickelt hat und ihrem Ziel näher gekommen ist. Man merkt es an den Konzerten, die viel strukturierter ablaufen, profimäßiger erscheinen und auch zeigen, dass die Musiker gewachsen sind. Der Ton ist ausgereifter, die Bühnenpräsenz ist deutlicher und die einzelnen Mitglieder stehen viel selbstsicherer vor dem Publikum, reagieren auf manches gar nicht mehr, greifen dafür anderes auf und agieren auch verstärkt ohne Worte mit den Zuhörern. Zwischendurch tanzen auch mal die Mönche im Hintergrund mit und greifen so noch einmal ein Element vom Beginn auf.
Lord of the Lost begeistern mit den altbekannten Songs, mit neuen Versionen, mit schnellen Rhythmen und sogar mit langsamen Balladen. Sie bringen die Halle zum Kochen und längst ist das Feeling eines kleinen, gemütlichen Konzerts verflogen. Man kommt nun mit blauen Flecken nach Hause, dafür ohne Autogramm. Aber natürlich mit dem unvergleichlichen Zugehörigkeitsgefühl, dass „Credo“ vermittelt. „We give our hearts to the Lord of the Lost“ – und die Herzen aller haben an diesem Abend den Hamburgern gehört. Chapeau!
Bilder folgen.