Der Erwartungsdruck ist hoch, wenn eine Band mit derart wechselhafter Geschichte und vor allem derart schwer zu fassendem Stil ein neues Album herausbringt.
SikTh waren immer ein vielen bekannter Geheimtipp, aber der große Durchbruch gelang nie. Vielleicht weil sich die Gruppe im Laufe ihres Bestehens seit 1999 drei Mal trennte und die einzelnen Mitglieder noch in anderen Bands spielen oder singen. Die Besetzung hat sich allerdings nicht sonderlich geändert. Einer der beiden Sänger, Justin Hill, wurde kürzlich von Joe Rosser ersetzt.
Nicht nur weil sie als Vorreiter des Djent Metal gelten, sondern weil ihre Musik neben üblichen Elementen aus Hardcore, Thrash und ähnlichem immer mehr beinhaltet und darum Etiketten wie Progressive oder Avantgarde bekamen, war die Spannung bezüglich der neuen Scheibe hoch.
Gepusht wurde diese zusätzlich durch Aussagen von Screamer Mikee Goodman, der als Kopf von SikTh gelten kann, aus dem jegliche Musik und alle Texte hervorgingen. Einige Teile hat er speziell für Joes tiefe Bassstimme geschrieben und die Zusammenarbeit mit Iron Maiden Gitarrist Adrian Smith bei Primal Rock Rebellion sorgte für melodische und psychedelische Einflüsse.
Generell kritisiert Mikee die Zurückhaltung viel zu vieler Musiker, was die Experimentierfreude angeht. Es sei wichtiger akzeptiert zu werden als Neues zu versuchen und vielleicht damit an den bisherigen Erfolg anzuknöpfen.
Im Laufe der Jahre habe er sich ebenfalls verändert. Aus dem damaligen Schocklyriker sei ein Poet geworden. Das neue Album sei zwar kein Konzeptalbum, aber die Songs passten gut zusammen und befassten sich mehrheitlich mit Kritik an der Menschheit, deren Entwicklung und Errungenschaften sowie möglichen oder schon realen Folgen. Die Menschen würden sich immer weiter- und dabei teilweise zurückentwickeln, so Goodman über die Botschaft, die er rüberbringen will. Sein Anspruch oder vielmehr seine Hoffnung ist es, die Hörer aus ihren Komfortzonen zu schubsen und neue Wege des Denkens beschreiten zu lassen.
Das erklärt auch das Cover. Ein mit technischen Teilen gepimpter, einseitig mit irgendetwas bespannter, sonst offener Schädel, der ein Leuchten beinhaltet. Die rastaähnlichen Haare sind Kabel und das Gesicht, insbesondere der Mund, ist verdrahtet. In der unteren, linken Ecke ist ein Sonnenauf- oder -untergang angedeutet.
Ganz schön viel Anspruch für ein neues Machwerk. Der Erwartungsdruck ist hoch. Mal sehen ob gehalten wird, was angekündigt wurde.
„Vivid“ beginnt, wie der Name nahelegt, mit deutlichen Lebenszeichen von Schlagzeuger Dan „Loord“ Foord, dem Bassisten James Leach und passenden Noten der Gitarristen Dan Weller und Graham „Pin“ Pinney. Die Geschwindigkeit des Songs variiert, z.B. um den Saiteninstrumenten oder Joe Raum zu geben, letzterem meist nur, um ein paar Worte einzustreuen. Seine getragene, dunkle Stimme steht in den ruhigeren Phasen in deutlichem Gegensatz zur sonstigen Klangfülle. Der Text könnte einem durch die Nacht irrendem, unter Drogen stehendem Individuum zugeordnet werden und gipfelt in Verwirrung am nächsten Morgen. Was ist schlimmer? Die beeinflusste Sicht oder die Realität? Besonders interessant ist die Aufforderung „leave me alone“, insbesondere da sie dem Konsumenten am Anfang des Albums entgegengescreamt wird. Im dazugehörigen Video erhält sie noch mehr Nachdruck.
Der zweite Song thrasht los und wird mit ein paar Misstönen akzentuiert. Dazu die sich ablösenden Stimmen der beiden Sänger, ruhige Phasen, Themawechsel und die Unklarheit des Stils ist perfekt. Das passt wunderbar zum Thema, denn der Titel ist eine Frage, die sich nicht so einfach beantworten lässt: „Century Of The Narcissist?“ Ein schnelles Ja würde zu kurz greifen, denn es gibt viele die sich dem entgegenstellen. Zu Beginn des Textes wird auf die Indoktrination mit Meinungen und die Unsitte sich durchsetzen zu müssen, selbst wenn die Fakten andere sind, eingegangen.
Zu hellen, abwartenden Gitarrenklängen spricht Joe den Refrain ein. Danach klingt es ziemlich nach Hard Rock ohne weitere Höhepunkte. In „The Aura“ wird ein bisschen in der Natur nachgedacht und eine Frau spielt ebenfalls eine Rolle.
„The Ship Has Sailed“ thematisiert, untermalt mit sphärischen Klängen, die Entfremdung in der heutigen Zeit auf abstrakte Weise. Zumindest ist das eine der möglichen Deutungen von dem, was gesprochen wird.
Ein hektischer Beginn mündet in einen von Mikees Stimme vorangetriebenen Sound. Nachdem er sich sein Leid von der Seele geschrien hat, wird es sanfter, flammt auf, flacht ab und so weiter. „Weavers Of Woe“ thematisiert Profitgier, Gewalt und die Massen, die sich den Umständen ergeben. Die entscheidenden Frage dabei: „Why let those demons win?“
Auch bei „Cracks of Light“ kann sich jeder angesprochen fühlen, wird aber nicht kritisiert, sondern ermutigt, höher zu klettern, Mauern einzureißen und die eigene Stärke zu erkennen. Eine Hymne an das Selbst, die an dieser Stelle versöhnlich wirkt. Musikalisch zeigt sich das gleiche, wechselhafte Bild, diesmal von Metal bis Lagerfeuergeklimper.
Die „Golden Cufflinks“ gehören den Gestaltern der Zukunft. „But future in who’s eyes?“ ist die Kernfrage des Songs und der gesamten CD. Verständlich, dass es nicht darum geht, möglichst schnell in diese Kreise aufzusteigen, um selbst Bonze zu werden, sondern sich um eine Welt zu bemühen, die nicht vom Geld regiert und dadurch immer banaler wird. Verändern bedeutet zu oft zerstören und bezieht sich bei SikTh nicht zum ersten Mal auf Stadtsanierungen und ähnliches. Die Lyrics verlangen geradezu nach kompromissloser Härte, aber es handelt sich um zurückhaltende, geradezu getragene Töne.
Joe Rosser erzählt eine weitere Geschichte begleitet von den schon bekannten atmosphärischen Klängen. „The Moon’s Been Gone For Hours“ könnte sich zu später oder eher früher Stunde in einer Bar abspielen und erzählt davon, dass jemand auf eine Transportmöglichkeit wartet, aber eigentlich nicht weg will. Ein von der Welt zurückgezogener Raum, eine Chance anzuhalten, abzuschalten, die gerne ein anders Mal wieder in Anspruch genommen werden wird.
So richtig hinterfragt werden die „Riddles Of Humanity“ eigentlich nicht. Der Song legt den Finger in eine Wunde, die offensichtlich ist und doch zu oft übersehen wird: „the main focus is on negativity“. Natürlich gibt es die Möglichkeit, sich dem entgegenzustellen, aber wie muss jeder für sich austüfteln. Melancholiker können sich freuen, denn die Stimmung sinkt tiefer und tiefer. Hier wird keine Antwort gegeben. Musikalisch wird es sanguinisch, lebhaft und deutlich akzentuiert, diesmal allerdings ohne zwischendurch an Tempo zu verlieren.
Ähnlich druckvoll geht es weiter. Zwischentöne sorgen wieder für Unruhe, allerdings eine, die sich nicht aufhalten lässt. Auch in den weniger vollgepackten Parts ist Ungeduld spürbar. Dazu noch der Gesang, der diese Eindrücke unterstreicht. „No Wishbones“ nimmt Anteil an den Armen, den Verlieren der Gesellschaft. Das Stück greift diejenigen an, die sich weiterhin bereichern, auch wenn sie die Lage verschlimmern, mitleidlos und mit fadenscheinige Ausreden wie „das war schon immer so“ oder „das Leben ist kein Wunschkonzert“. Außerdem darf sich die schweigende Mehrheit angesprochen fühlen.
Nur ein wenig melodiöser geht die Reise weiter. „Ride The Illusion“ nimmt mit auf einen Ritt mit weniger Zeit zum Luft holen bis zu Beginn des letzten Drittels die Gitarristen eine Pause einläuten. Fast zum Stillstand gekommen klingt der Song vergleichsweise verhalten aus. Die angesprochene Illusion ist der Glaube konsumieren zu müssen, um glücklich zu sein, obwohl zu sehen ist, dass dies bei den meisten Menschen nicht ausreicht. Wunderbar konterkariert durch den Vorschlag, sein GPS zu aktivieren, wenn man sich verloren vorkommt. Ein Aufruf, den Verstand zu nutzen und sich selbst, seine Gewohnheiten zu evaluieren und hoffentlich zu erkennen, wie wenig es braucht, um fröhlich zu sein.
„When It Rains“ ist eine Aneinanderreihung von Fragen, die bei der Selbstevaluation helfen könnten oder auch einfach so geeignet sind, um ein wenig zu philosophieren. Es liegt die Deutung nahe, dass, ähnlich wie in „No Wishbones“, mit dem Regen Tränen gemeint sind. Diese eindrücklichen Worte werden wieder von Joe intoniert. Das Album endet mit einem musikalischen Wellenrauschen, das von einer Entspannungshilfe stammen könnte.
Denjenigen, denen Death Of A Dead Day musikalisch teilweise zu abgefahren war, wird The Future In Whose Eyes? mit seinen melodiösen Parts entgegenkommen. Wem allerdings gerade das Ungewöhnliche, Sprunghafte bei der alten Scheibe gefallen hat, findet die neue wahrscheinlich ein wenig enttäuschend. Mikee mag es als Experimentierfreude bezeichnen, eventuell sogar als solche empfinden, aber er weicht den Sound, der für viele SikTh ausmachte, ein wenig auf und bewegt sich in eine massentauglichere, gefälligere Richtung. Hörenswert ist das allemal, nur leider werden die geweckten Erwartungen nicht erfüllt. Joe Rosser und der mehrfache, emotionale Einsatz beider Stimmen sind eine echte Bereicherung.
Inhaltlich schienen die Vorankündigungen ebenfalls mehr zu versprechen. Die Texte gehen nicht tiefer als früher und ob sie besser ausgedrückt wurden, ist sicherlich Geschmackssache. Aber es ist immer wieder erfreulich, wenn Musiker nicht nur nach Erfolg und Geld streben, sondern eine Botschaft haben, die die Zukunft in den Augen der Mehrheit ein wenig verbessern könnte.
3/5
Anspieltipp: No Wishbones
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SikTh – The Future in Whose Eyes?
Millenium Night, 2017
CD: 14,99 €
Tracklist
Vivid
Century Of The Narcissist?
The Aura
This Ship Has Sailed
Weavers Of Woe
Cracks of Light
Golden Cufflinks
The Moon’s Been Gone For Hours
Riddles Of Humanity
No Wishbones
Ride The Illusion
When It Rains