Der echte Punk war eigentlich nur zwei Jahre richtig existent. Im Jahre 1976 explodierte der Punk zu seiner ganzen Größe, aber schon 1978 blieben vom Ganzen nur ein Haufen Asche und Rauchwolken übrig. Vom ursprünglichen Gedanken der Protagonisten war nichts mehr, oder nur noch eine kleine Menge dessen, da. In diesen Trümmern entstand eine Aufbruchsstimmung. Zig Bands, Labels und Fanzines entstanden, teilweise im Do-It-Yourself-Verfahren aus der Asche geboren und ans Tageslicht gehoben. Bands wie Gang Of Four, Suicide, Joy Division, Cabaret Voltaire, The Stranglers, Throbbing Gristle, The Slits, Art of Noise, Buzzcocks, Alternative TV, Scritti Politti, The Durutti Column, Wire, Chrome, Depeche Mode, The Pop Group, Public Image Limited, The Human League, Devo, um hier nur einige aufzuzählen, entstanden in dieser Zeit oder drangen in die Szene. Labels wie Factory Records, Fast Product, Rough Trade oder Mute entstanden und brachten Veröffentlichung unter teilweise dilletantischen Bedingungen auf den Markt. Alles war neu und interessant in dieser Zeit.
Der britische Kulturjournalist und Sachbuchautor Simon Reynolds fasst in seinem Buch Rip it up und start again – Schmeiß alles hin und fang neu an (Postpunk 1978-1984) die Szene zusammen und beschreibt die damaligen Zustände und Voraussetzungen für die Findung und Entstehung einer neuen Generation von Musikern, Bands und Fanzines. Auf knapp 600 Seiten erklärt Reynolds in fließend zu lesendem Stil, welche Zusammenhänge und Querverbindungen existierten, welche Formen die banalen, zusammengeschusterten Fanzine-Veröffentlichungen annahmen, die Beweggründe der Musiker, ihre Musik in dieser neuen Form zu schreiben und aufzunehmen. Dieses Buch ist eine wahre Bibel der Postpunkszene. Simon Reynolds schreibt nicht nur wahllose Bands chronologisch auf, sondern zerlegt die Szene teilweise in die einzelnen Städte und musikalischen Formen. Sheffield klang anders als Manchester oder London. Industrial anders als Synthiepop. Die Postpunk-Drehscheiben Akron oder Ohio mit Devo und Pere Ubu wieder komplett anders als die freakige Waveszene in San Francisco um die Residents, Chrome oder Tuxedomoon. Der Übergang vom Punk und schrägem Industrial in den 80iger-Jahre-Pop mit seinem geschniegeltem Aussehen in bunten Farben wird bestens beschrieben. Die Urpunks von ’76 waren ja gegen alles. Keine tanzbaren Grooves, nicht zu viel Melodien, Bildung war uninteressant. Diese neue Szene zeigte eine neue Musikergenration auf, denen Bildung und Kunst nicht fremd war. Literatur, Philosophie und Theater waren keine verteufelten Dinge mehr. Synthesizer waren nicht mehr verpönt wie zu den radikalen Zeiten des Punk. Alles war bunt und neu, wie Phönix der Asche entstiegen.
Rip it up ist nichts anderes als ein Sachbuch. Zu lesen aber ist der dicke Schmöker wie ein spannender Roman rund um die Musik. Man bekommt nicht genug von den zig Einzelheiten und Begebenheiten von unzähligen Bands aus dieser Zeit. Man verschlingt Zeile um Zeile und taucht förmlich ein in diese Zeit. Eine echte Bibel für jeden Musikbegeisterten. Nicht nur für Anhänger dieser Musik, auch für jeden normalen Musikinteressierten, der nicht nur in seinen Schubladen denkt. Genau dieses Schubladendenken wurde damals über den Haufen geworfen und ließ den Phönix aus der Asche entstehen.
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Simon Reynolds – Rip it up und start again – Schmeiß alles hin und fang neu an (Postpunk 1978-1984)
Hannibal, 2007
575 Seiten
29,90 €
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