Norbert Paulini ist ein Antiquar aus Dresden, der Bücher liebt, schätzt, verehrt. Er ist belesen und weiß, welches Buch die richtige Lektüre für die Besucher seines Antiquariats sind. Doch dann kommt die Wende, dann das Internet, die Kunden bleiben aus und Norbert Paulini muss sich in einer neuen Welt zurechtfinden und sieht sich plötzlich groben Anschuldigungen gegenüber: Ist der friedsame Antiquar ein Fremdenfeind, ein Aufrührer?
Ingo Schulze hat einmal mehr ein interessantes Bild einer tragischen Figur gezeichnet. Der Antiquar, zu DDR-Zeiten oft bewundert, eine Anlaufstelle für Belesene und alle, die es sein wollten, selbst scheinbar jedes bedeutende Buch studiert habend, steht im Mittelpunkt der Zeit vor 1989. Sein Leben dreht sich um die Literatur, dabei möchte er nicht selber schreiben, sondern das, was geschrieben wurde, verstehen und anderen zugänglich machen. Er schläft auf Büchern, eine Liebe, die er von seiner früh verstorbenen Mutter geerbt hat, und führt das Antiquariat ohne auf Gewinn oder Verlust zu achten, einzig aus Liebe zu den Büchern.
Die Welt verändert sich, doch Paulini kommt damit nicht zurecht. So wirklich scheint er den Zeitenwandel weder zu mögen noch zu verstehen, und aus dem ruhigen und rechtschaffenden Mann wird bald ein verbitterter Feind und was so romantisch, so verträumt erzählt wurde, bricht mittendrin ab, mit einem Hinweis auf den 20. April, auf Wehrmachtshelme und der Wut Paulinis gegenüber den Polizisten, die vor ihm stehen. Bezeichnend ist der Satz: „Kümmert Sie das nicht, dass ich hier oben hausen muss, während sich eine Million frisch zugereister junger Männer aussuchen darf, in welcher Stadt sie sich auf unser aller Sozialhilfepolster niederlassen darf, um fleißig weiter Kinder zu zeugen und zwischendurch ihre Stirn auf dem Moscheeteppich zu wetzen?“ Alles gesagt. Doch Paulini scheint beschwichtigen zu wollen. „Ich hab nichts gegen Auslänger, ich werde sogar einen einstellen. Es gibt nämlich solche und solche.“ Damit spricht er vielen aus der Seele, mag man meinen, damit ist man aber mitten in den Konflikten des 21. Jahrhunderts und der letzten Jahre angekommen.
Im zweiten Teil des Buches wird dann der Grund aufgedeckt, warum Paulinis Geschichte erzählt wird, um zu vermitteln, wo wahre Bildung zu Hause war, bis sich alles änderte. Ein Hochgesang auf den Osten und die oft so belächelten und kleingemachten „Ossis“, die doch gebildet sind, wissend, klug, fleißig. Paulini ist stellvertretend für die Bevölkerung eines ganzen Landstrichs eingesetzt. Ein bisschen arrogant tritt er auf, verklärt, nicht immer von dieser Welt stammend und in ihr lebend. Am Ende fragt man sich, ob es nicht so kommen musste, ob es nicht deutlich war, Anzeichen gegeben hatte, dass es keinen anderen Ausweg geben konnte. Wechselt der zweite Teil die Perspektive und beschreibt die Gedanken, Emotionen und Motivationen des fiktiven Autors der Paulini-Erzählung, wird dem Leser bald vor Augen geführt, dass der ruhige, belesene Antiquar, den man schrullig, aber doch sympathisch fand, eben nicht der gute Mensch mit reinem Herzen und edlen Gedanken war. Klar, dem Außenstehenden fällt das auf, der Schriftsteller überdenkt das Geschriebene und die Person Paulini noch einmal. Man ist schnell auf seiner Seite, reflektiert den ersten Teil noch einmal, kommt zu anderen Schlüssen.
Doch dann ist da noch Teil drei, erzählt von einer fiktiven Lektorin, die sich auf die Spuren des fiktiven Schriftstellers macht und seine edlen Motive zu widerlegen versucht. Am Ende bleibt der Leser alleine zurück, sich fragend, wie leicht er zu beeinflussen ist, wie leicht seine Meinung gesteuert werden kann, betrachtet er nur eine Seite einer Geschichte.
Ingo Schulze stellt Fragen, ohne sie zu formulieren. Sie tauchen bei der Lektüre auf und werden nur beantwortet, wenn der Leser zur Reflexion bereit ist und sich selbst in den Kontext des Gelesenen stellt. Eine klare Leseempfehlung.
5/5
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Ingo Schulze – Die rechtschaffenen Mörder
S. Fischer, 2020
320 Seiten
Hardcover: 21,00 €