Das lange Warten hat ein Ende: Stephan Weidner hat sein neues Album herausgebracht und das hört auf den Titel V. Vielleicht nicht sonderlich kreativ, mag man meinen, aber warum lange über einen Albumtitel nachdenken, wenn es doch eigentlich um Wichtigeres geht – die Musik. Zuletzt hatte Weidner eine Best-of-Scheibe veröffentlicht, die all die Solojahre Revue passieren ließ und sieben neue Songs enthielt, die Lust auf mehr gemacht haben. Dieses Mehr ist nun endlich da. Das Cover erinnert viele an Motörheads Snaggletooth, Weidner selbst sieht das gar nicht so und hatte diese Verbindung auch gar nicht beabsichtigt. Dennoch kann man eine gewisse Ähnlichkeit nicht leugnen, der Bär hat gewaltige Hauer, den brutalen, bösen Blick, Jesus- und Petruskreuz in den Augen, darunter das Unendlichkeitssymbol.
„Das Lied vom Blut“ macht den Anfang und sofort wird deutlich: Es wird eine gewaltige Platte mit viel Power. Die Hookline ist ziemlich gut und geht auch sofort ins Ohr. Tja und dann geht es natürlich um Frankfurt. „Der Frankfurter Berg ist nicht der Ort für Gefühle“ – sehr autobiographisch, brachial, brutal, blutig. Jeder, der sich auch nur ein bisschen mit dem Leben des Musikers beschäftigt hat, denkt sofort an seine Herkunft, den steinigen Weg, diesen rebellierenden, nicht zu bändigenden jungen Mann und vor allem an den Kämpfer, der nie aufgegeben hat. Guter Einstieg in das Album. Song Nummer 2 ist bereits bekannt, war „Der Berg Bewegt Sich Nicht“ doch eine der drei vorangehenden Singles, die uns das Frankfurter Urgestein vorgesetzt hat. Zwar sind auch hier wieder härtere Riffs zu hören, aber es gibt eine verhältnismäßig zahme Bridge. Selbst der Gesang klingt ein bisschen weicher. Aber textlich ein typischer Der W. Arbeite und wenn es nicht mehr geht, mach weiter – am Ende bist nur Du für Deinen Weg verantwortlich. Die Message hatten wir schon öfter mit anderen Wörtern ausstaffiert, aber wichtig ist sie immer noch und vielleicht auch der Arschtritt, den man von Stephan erwartet und manchmal auch braucht. Wer, wenn nicht er, könnte sowas denn sonst fordern?
„Für Dich“ ist schwerer Tobak. Ach Stephan, wir müssen reden. Wie kann es sein, dass Du es immer schaffst, das in Worte zu packen, was so viele da draußen fühlen und es nicht ausdrücken können? Denn auch wenn Du sagst, dass es kein typischer Der W-Song über den Tod ist, so ist er doch gespickt mit dem, was Dich ausmacht. Mit den Worten über die Freundschaft, den Tod, die Liebe, die Unendlichkeit – über die besonderen Menschen, die wir vielleicht in unserem Leben kennenlernen dürfen. „Ich hab Dich schon vermisst, bevor ich Dich traf“ – wir alle kennen diesen Jemand in unserem Leben. Wenn die Stimmung jetzt schon unten ist, schauen wir uns den nächsten Song an: „Alles Wieder Anders“. Irgendwie eine schöne Schlussmachnummer, in der aber noch mehr steckt. Einige meinen, hier eine Anlehnung an Bad Religion rauszuhören und dem kann ich mich auch nicht erwehren, ein Anklang ist da. Das ist übrigens die erste Nummer, die ich sofort mehrfach anhöre, weil die einfach sofort ins Ohr geht und sich da festsetzt. Der Rhythmus bleibt, man tippt mit dem Finger auf der Tischplatte mit, man wippt mit dem Fuß im Takt, das ist gut, starke Nummer.
Sphärisch beginnt „Kosmogenesis“ und das passt auch. Bei dem ein oder anderen mag da sofort was klingeln, bei anderen ist es typisch Weidner. Kosmogenesis ist nicht einfach die Summe aus Kosmos und Genesis, sondern dahinter verbirgt sich der gleichnamige erste Band von Helena Petrovna Blavatskys epochalem Werk Die Geheimlehre. Die Okkultistin hat Theologie und Philosophie zusammengebracht und ihre eigene Lehre verfasst. Hierbei stützt sie sich sehr auf indische Denktraditionen. Wie jeder großen religiösen Schrift, soll diesem Werk auch ein anderes Buch zugrunde liegen, nämlich das Book of Dzyan, sich beziehend auf den Daoisten Lytzyn, der im vierten Jahrhundert lebte. Blavatsky reagierte mit ihrem Werk auf die Übermacht der Naturwissenschaften und der Evolutionstheorie gegenüber der christlichen Theologie und hatte den Anspruch, eine wissenschaftlich begründete Religion zu lehren. Ihre Kosmogenese (Entwicklung des Kosmos) kann nur im Zusammenhang mit ihrer Anthropogenese (Entwicklung des Menschen) verstanden werden, da sie den Menschen in sieben Prinzipien (vier sterbliche, drei unsterbliche) aufteilte und Erde und alle anderen Himmelskörper gleichfalls. Alle Evolution verläuft ihrer Lehre nach in einem siebengliedrigen Zyklus, erst gibt es einen Abstieg, dann einen Aufstieg. Der niedrigste Punkt ist ein physisches Dasein, der Endpunkt ein geistiges. Hier sieht man deutliche Anlehnungen an den Buddhismus. Diese sehr vereinfachte Darstellung Blavatskys hilft aber, Weidners Song ein bisschen besser zu verstehen, wenn man den großen Interpretationsschritt wagt und Licht und Regenbogen mit den Aufgestiegenen Meistern gleichsetzt, zu denen Blavatsky die Religionsstifter Buddha und Jesus zählte – und Jesus Christus wiederum sagt nach dem Johannesevangelium: „Ich bin das Licht der Welt“. Anspruchsvolle Kost? Oder eine tolle Liebeserklärung? Das mag jeder für sich entscheiden. Auf jeden Fall eine typische Weidner-Nummer, die nicht fehlen darf.
Vielleicht wird es ja etwas leichter mit „Meditation Mit Kippe Und Bier“. Diese Nächte mit der Kippe, dem Bier, den schweren Gedanken und dem Moment, in dem wir aufspringen und voller Tatendrang Neues beginnen, kennen wir alle. Der W liefert den Soundtrack dazu, der Rhythmus treibt nach vorne, nicht zu hart, nicht zu schnell, aber doch mit dem Tritt in den Allerwertesten. „Haus aus Spiegeln“ kennt man auch schon, macht aber nichts. Eine traurige Nummer, die einfach sein muss, kann man auf Beziehungen und Freundschaften anwenden und am Ende ist es doch so, dass wir viel öfter im Guten getrennte Wege gehen wollen. Das Gitarrensolo nach fast vier Minuten ist dann ein bisschen wie „November Rain“, wenn Slash alleine aus der Kirche kommt und zu spielen beginnt. Es klingt nicht so, aber dieses Bild drängt sich auf, diese Einsamkeit, dieses Verlassensein und dann ist da nur ein Mann und seine Gitarre – und seien wir ehrlich, wir alle könnten uns Stephan Weidner in dieser Wüste mit der Gitarre vorstellen, oder?
Jetzt müsste aber bitte mal wieder etwas anderes kommen, sonst ist die Stimmung ja ganz im Keller und die Depression hockt auf den Boxen. Na, das hat sich Frankfurter wohl auch gedacht und haut richtig rein. Ein fettes Riff schlägt einem bei „Ein Strick, Ihr Genick“ entgegen. Der Gesang wird härter, instrumental wird richtig in die Saiten gegriffen, das ist eine gute Hardrocknummer, aus der Wut spricht. Dann aber gibt es einen Bruch und der ist dann weniger hart, führt zu einer eigentlich recht verwaschenen Nummer, hat aber ein schönes Solo drinnen und passt dann auch wieder zum Text: „Lass die Wut los, die Wut ist stärker als die Angst“. Vielleicht nicht unbedingt der Lieblingssong auf der Platte, aber auch nicht wirklich schlecht. „Kann Weg!“, tja, das denkt man ja öfter mal. Manchmal muss man aussortieren, vor allem mit dem Gestern, immer nur Altem hinherzuhängen, den verpassten Chancen und verflossenen Lieben nachzutrauern, das macht doch keinen glücklich. Also weg damit, denn wir brauchen dieses Gestern nicht, sondern müssen im Jetzt leben – und das ist ja immer ein guter Lebenstipp, nur nicht jederzeit so einfach umzusetzen. Hier gibt es auch wieder Ohrwurmpotential: „Was Dich nicht glücklich macht, kann weg!“
„Guten Morgen Mitternacht!“ Die Beschreibung des Wehrwolflebens – oder vielleicht doch die stille, leidvolle Freundschaft mit den nächtlichen, rastlosen Dämonen, die einen wecken, den Schlaf fernhalten, einen umtreiben und jagen lassen, tausend endlosen Gedanken hinterher? Man möchte vielleicht mal an die Leichtigkeit eines Textes denken, aber es ist nun mal Der W und so simpel waren seine Lyrics halt nie. Übrigens auch sonst keine schlechte Nummer, treibender Rhythmus, zieht mit, alles fein.
Mythologie? Kann er. „Das Letzte Boot Über den Acheron“, der Fluss, über den man nach dem Tod der griechischen Mythologie zufolge fahren muss, den Fährmann mit zwei Münzen auf den Augen bestechend, um ans andere Ufer zu kommen. Wer den Obolus nicht entrichten kann, muss versuchen zu schwimmen. Es ist der Fluss des Schmerzens und des Leids. Wundervoll wird hier vor schweren Gitarren- und Bassklängen eine Metapher zum Leben hin aufgebaut, immer wieder darauf hinweisend, dass es keinen Gott gibt und das Silber auch nicht hilft, aber am Ende will man doch nicht alleine sein und sucht den irdischen Begleiter. Die Lyrics lassen doch wieder sehr viel Spielraum für Interpretationen. Es ist eine schwere Hardrocknummer, die durchaus Metal-Elemente hat und das „Kein Gott“-Gekeife erinnert ein bisschen an die Gothic-Richtung. Gute Mischung, die Lust auf mehr macht – und bitte achtet vor allem gegen Ende hin auf den Bass! Mit „Briefe An Mich Selbst“ schließt das fünfte Studioalbum von Stephan Weidner. Bei so einem Titel erwartet man keine fröhliche Nummer, sondern was Nachdenkliches, Schweres. „Worüber ich nicht sprechen kann, muss ich schreiben“, auch das können so viele so gut nachvollziehen. Ein schwermütiger Abschluss.
Fazit? Ja, das ist schwer dieses Mal. Das Album trifft den Nerv der Zeit, dieses Schwermütige, Nachdenkliche und gleichzeig Brachiale, Wütende. Aber allgemein ist Der W etwas ruhiger geworden, besonnener. Vielleicht mag das dem einen oder anderen nicht mehr gefallen, aber die Wut ist weg. Fast hat man den Eindruck, Weidner will nicht mehr die ganze Welt verändern, sondern nur noch diejenigen, die offen sind und zuhören – weil er bei ihnen Gehör findet und seine Botschaft anbringen kann. Wie bereits in den vorherigen Alben, sind auch in V philosophische Ansätze verwendet, mal mehr, mal weniger stark und in die Tiefe gehend, aber durchaus soweit anregend, dass man sich damit einmal näher beschäftigen kann. An Abwechslung fehlt es auch nicht. Keine reine Hardrockplatte, aber auch nicht langweilig poppig. Mit V hat Weidner ein gutes Album unters Volk gebracht, das sich hören lassen kann und Lust auf die Tour macht.
4/5
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Der W – V
W-Entertainment-GmbH (Tonpool), 2022
CD: € 18,99
Tracklist:
1 Das Lied vom Blut
2 Der Berg bewegt sich nicht
3 Für Dich
4 Alles wieder anders
5 Kosmogenesis
6 Meditation mit Kippe und Bier
7 Haus aus Spiegeln
8 Ein Strick, ihr Genick
9 Kann weg!
10 Guten Morgen Mitternacht
11 Das letzte Boot über den Acheron
12 Briefe an mich selbst