>>> click here for English version <<<
Diese Geschichte beginnt am 9. September im Jahre 1952 als im Nachkriegsberlin der kleine Manuel Göttsching geboren wird. Mit acht Jahren begann Göttsching klassische Gitarre zu lernen, was er die nächsten Jahre auch konsequent durchzog. Mittlerweile gut genug an den sechs Saiten, gründete Manuel Göttsching zusammen mit seinem besten Freund und Schulkameraden Hartmut Enke 1967 an Enkes 15. Geburtstag ihre erste eigene Band. Eigentlich wollte Manuel den Part des Schlagzeugers übernehmen, aber es endete damit, dss Göttsching der Leadsänger wurde. Über Auftritte an ihrer Schule kam diese Formation aber nicht hinaus. Zur gleichen Zeit gründete Konrad Latte, der Leiter des Berliner Barock-Orchesters in den Kellerräumen der Nelson-Mandela-Schule, der damaligen Berufsschule für Friseure an der Pfalzburger Straße 30 in Berlin-Wilmersdorf das Electronic Beat Studio, welches vom Schweizer Musikstudenten und späteren Avantgarde-Komponisten Thomas Kessler aufgebaut und geleitet wurde. Die meisten damaligen Studios für elektronische Musik waren an die akademische Umgebung angesiedelt. Das Electronic Beat Studio ging einen komplett anderen Weg. Dort trafen Göttsching und Enke auf Kessler, deren Mentor er wurde. Kessler machte die ansässigen Musiker mit der amerikanischen Minimal Music bekannt und prägte damit den angesagten Sound dieser kleinen Szene. Diese amerikanische Richtung wurde von den Gelehrten seinerzeit aber sehr skeptisch betrachtet. Am Anfang lernten die Musiker mit Tonbandgeräten sogenannte Bandschleifen-Loops zu erzeugen, lernten Techniken der Musique Concrète kennen, spielten dazu aber noch auf den üblichen Instrumenten, wie Gitarre, Bass und Schlagzeug. Was Can und Kraftwerk in Köln und Düsseldorf machten, erblickte hier in Berlin als Ursprung der sogenannten Berliner Schule das Licht der Welt. Eine Keimzelle des sogenannten Krautrocks war geboren. Edgar Froeses Tangerine Dream, Agitation Free mit Lutz „Lüül“ Ulbrich, Klaus Schulze, Günter Schickert, Cluster mit Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius … neue Musiker und Bands – unbekannt – deutsch … weg von den angloamerikanischen Vorbildern. In dieser Welt fühlten sich Göttsching und Enke pudelwohl, besserten ihre musikalischen Fertigkeiten auf und lernten viel Neues dazu. Anfang 1970 gründeten die beiden mit ihren Kumpels Volker Zibell und Wolfgang Müller die Formation Steeple Chase Blues Band, welche aber nicht lange Bestand hatte.
Ihr gebrauchtes Equipment kaufte Enke bei einem England-Trip in London der Gruppe Pink Floyd ab. Schon im gleichen Jahr gründeten Göttsching und Enke zusammen mit Klaus Schulze, dem ehemaligen Schlagzeuger von Tangerine Dream, der die Gruppe kurz nach der Veröffentlichung des ersten Albums verlassen hatte, Ash Ra Tempel. Laut Göttsching setzte sich der Bandname aus „Ash“ – dem Weltlichen, Materiellen, – „Ra“ – dem Göttlichen, Spirituellen – und dem „Tempel“, in dem sich beides traf, zusammen. Geplant war ein Sound, der diese neuen Töne mit bluesigen Improvisationen unter einem Dach vereinigt. Im Dunstkreis der Berliner elektronischen Musik traf man auf Rolf-Ulrich Kaiser, der mit der finanziellen Unterstützung von Peter Meisel, dem damaligen Direktor des Hansa Musikverlages 1969 das Ohr Label gründete. Wie schon Tangerine Dream mit ihrem Debut „Electronic Meditation“ fanden auch Ash Ra Tempel bei Ohr eine Heimat und so erblickte 1971 das gleichnamige erste Album das Licht der Welt. Schulze verließ Ash Ra Tempel aber schon bald wieder, um seine eigene Solo-Karriere zu forcieren. Ihr alter Bandkollege Wolfgang Müller übernahm den vakanten Posten. Mittlerweile hatte Kaiser das Label Kosmische Kuriere/Kosmische Musik gegründet, auf dem sich Bands wie Wallenstein, Mythos oder die Münchner Popol Vuh tummelten. Einzeln oder alle zusammen unter dem Moniker Cosmic Jokers. Weitere exzentrische Mitmusiker und Wegbegleiter wie die beiden Schweizer Sergius Golowin, Schriftsteller, dem Maler und Musiker Walter Wegmüller oder dem amerikanischen Psychologen und Drogenpapst Dr. Timothy Leary sorgten für eine entrückte, drogenbeeinflusste „kosmische“ Musik. So entstanden in den nächsten drei Jahren vier weitere Alben mit ihrer elektronischen Musik.
1974 gründete Manuel Göttsching in Berlin sein eigenes Roma Studio. Auf seinem dort aufgenommenem 75er Album Inventions for Electric Guitars war das erste Mal der Name Manuel Göttsching auf der Vorderseite neben Ash Ra Tempel zu lesen. Göttsching erklärte viel später, dass er Inventions als seine erste Soloplatte betrachtet. Mit dem nächsten Album New Age of Earth bricht für die Band um Göttsching ein neues Kapitel an. Er verkürzt den Bandnamen und firmiert fortan unter dem Namen Ashra. Diese Phase bringt zwischen 1976 und 1980 vier sehr gute Platten hervor. Von den drogistischen Experimenten hat sich der Sound hin zu New Age Music entwickelt. Während New Age of Earth und Blackouts von Göttsching alleine aufgenommen wurden, holte er sich für Correlations und Belle Alliance seine alten Weggefährten Lutz „Lüül“ Ulbrich und Wallensteins Harald Grosskopf mit ins Boot. In dieser Besetzung tourten Ashra durch einige europäischen Länder. 1981 firmierte Manuel Göttsching zusammen mit seiner Freundin Rosi Müller, die bereits auf einigen Ash Ra Tempel Aufnahmen zu hören war, und der Mode-Designerin Claudia Skoda als Die Dominas, die im März 81 eine 10“ Inch Vinylplatte mit drei Songs rausbrachten. Einer der Songs wurde betitelt als „Herr Ralfi und Herr Karl“ und eben diese beiden Herren waren niemand geringeres als Ralf Hütter und Karl Bartos von Kraftwerk, die gleichzeitig auch das Cover der Dominas EP designten.
Am 12. Dezember 1981 möchte Göttsching in seinem Roma Studio ein wenig Musik für seinen Walkman aufnehmen, er muss am nächsten Tag von Berlin nach Hamburg fliegen. Die Bandmaschine läuft, der Sequenzer blubbert einige Synthesizer-Akkorde vor sich hin. Der Drumcomputer bringt den synthetischen Beat ins Spiel. Gut eine halbe Stunde später kommt seine Gitarre, eine Gibson SG ins Spiel. So geht das gut 59 Minuten lang, und als Göttsching das Band anschließend abhört, muss er erstaunt feststellen, dass der knapp einstündige Track richtig gut klingt. Es sind keinerlei Nachbearbeitungen und Overdubs nötig. Das aufgenommene Stück hört sich komplett anders an als man bisher von ihm gewohnt war. Göttsching möchte die Musik eigentlich gar nicht veröffentlichen, er hat das Stück ja lediglich zur Untermalung seines Fluges nach Hamburg aufgenommen. Die nächsten drei Jahre sprechen ihn aber immer wieder Personen an, denen er den Track vorgespielt hat, er solle das doch veröffentlichen. Mit im Tenor dieser Befürworter ist auch sein alter Kumpel Klaus Schulze, der den Song 1984 auf seinem eigenem Label Inteam in einer Auflage von 1000 Stück herausbringt. Manuel Göttsching spielt leidenschaftlich Schach und darum wählt er als Covermotiv ein stilisiertes Schachbrett mit den 64 Feldern in braun und beige. Ein berühmter Eröffnungszug beim Schach ist Bauer E2 auf E4. Dieser Titel spukte seit geraumer Zeit schon in seinem Kopf herum und endlich hatte er die passende Musik dazu. Das Album wurde also E2–E4 betitelt und mit der Katalognummer ID 20.004 versehen. Quasi analog zum Eröffnungszug beim Schach war das Album das erste unter eigenem Namen veröffentlichte. Die schachbrettartigen Quadrate des Covers wurden als Reliefprägung gefertigt. Obwohl nur ein durchgehender Track, ist das Stück in neun einzelnen Songs in der Trackliste angeführt, die allesamt eine Schachpartie beschreiben.
Zwei Keyboardakkorde werden vom Sequenzer immer wiederholt, nach gut einer Minute kommen elektronisch erzeugte Perkussionsrhythmen aus dem Drumcomputer hinzu. Wieder gut eine Minute später kommt ein neues Synthiemuster hinzu, welches im Vordergrund bleibt und das ursprüngliche in den Hintergrund drängt. So mäandert der Track vor sich hin und verändert sich durch kleine Justierungen am Synthesizer merklich. Die Grundstimmung bleibt immer erhalten, als ob lediglich immer wieder ein neues Fenster in einem Raum dazu geöffnet wird. Bei geschlossenen Augen kann man sich bestens eine imaginäre Bahnfahrt dazu vorstellen. Der Sound der Schienen bleibt gleich, die vorbeiziehende Landschaft verändert sich. Erstaunlicherweise wird der Track keine Sekunde langweilig, obwohl der Grundtenor weiterhin nur aus den zwei Akkorden am Synthie besteht. Nach 31 Minuten kommt die elektrische Gitarre ins Spiel und wiederholt in spielerischen Variationen ebenfalls die beiden Akkorde. Gut fünf Minuten später bricht die Gitarre aus diesem Gefüge aus und schlägt fast jazzige Kapriolen rund ums Grundthema. Diese gitarrensoloartigen Melodienbögen heben den Song auf ein neues Niveau. Die Intensität des ganzen Gefüges steigert sich … ganz so, als ob der imaginäre Zug von den Gleisen abheben würde und zum Flugzeug wird. Mit der Zeit kommen mehr Rhythmen hinzu, die fast einen lateinamerikanischen Charakter haben. Die Gitarrenkapriolen heben sich vom Grund ab und stehen prägnant im Vordergrund. Je weiter der Track geht, verändert sich dieser Flug mehr und mehr in eine Reise durch einen imaginären Tunnel durch Zeit und Raum. Musikalische Farben wirbeln um den Hörer, während die Umgebung draußen in einer farbleeren Tönung verblasst. Nach gut 55 Minuten setzt der Flug langsam zur Landung an, die Gitarre verschwindet und das alte Grundthema steht wieder im Vordergrund. Das Flugzeug wird wieder zum Zug, der unmerklich langsamer wird, bis zum Schluss wieder nur die beiden Synthieakkorde übrigbleiben und ausblenden. Nach einer fast einstündigen Reise ist man am Ziel angelangt. Man meint fast, aus einem Traum aufzuwachen und reibt sich die Augen – versucht sich zu orientieren, wo man gerade ist.
E2–E4 verkauft sich so gut wie gar nicht in Deutschland. 1984 ist die Neue Deutsche Welle auf ihrem Zenit angekommen, wer möchte da noch den alten Krautsound der 70er hören, noch dazu ein Instrumentalstück. Dieser alte Muff interessiert hierzulande niemand mehr. Das sollte sich erst gut ein Jahrzehnt später wieder ändern, als der hervorragende Ruf des Krautrocks von außen, von Leuten wie dem legendären BBC-DJ John Peel oder Julian Cope, dem Sänger der Post-Punk Band The Teardrop Explodes wieder zurück nach Deutschland hineingetragen wurde – sozusagen re-importiert. Bei Veröffentlichung waren die Kritiken zwiegespalten. Manche lobten das Stück in den Himmel, andere zerrissen es in der Luft. Erst einige Jahre später erfährt Göttsching vom legendären Ruf des Albums, als viele Techno und House Discjockeys aus aller Welt Anfragen an ihn richten mit der Bitte, Sequenzen aus E2–E4 als Samples für eigene Tracks benutzen zu dürfen oder es sogar komplett zu remixen. Göttsching ist verwundert, weil seine Sequenzen komplett anders als die Beats der House-Musik aufgenommen waren.
In den folgenden Jahre spielte Göttsching immer wieder in verschiedenen Formation, teils unter Ash Ra Tempel, Ashra oder solo Konzerte und nahm Platten auf. Einige der alten und neuen Livekonzerte erschienen auf DVD. 2002 brachte Göttsching sein eigenes Label MG.Art an den Start. Im März 2005 performte das Contemporary Music Ensemble Zeitkratzer einen Part von E2–E4 zusammen mit Manuel an der akustischen Gitarre auf der Berliner Volksbühne. Diese Aufnahme von gut 22 Minuten Länge wurde als Maxi-CD auf MG.Art veröffentlicht. Ende August 2006 spielte Manuel Göttsching auf dem Metamorphose Festival in Japan und führte E2 – E4 das allererste Mal live in seiner originalen Form mit elektrischer Gitarre und Elektronik komplett auf. Am 12. Dezember 2006 führte er selbiges erneut auf, anlässlich des 25. Jubiläums der Aufnahme von E2–E4 im Club Berghain in seiner Heimatstadt Berlin. Im August 2008 stand Göttsching als Headliner der prestigeträchtigen Musikreihe „Wordless Music“ im Lincoln Center mit der US-Live-Premiere von E2-E4 auf der Bühne. Im Januar 2015 spielte Göttsching solo im Rahmen der Kraut & Drastik Interview/Konzert Reihe in den Münchner Kammerspielen. Mit der dänischen Band Cirklen führte er im April 2017 sein 75er Solowerk Inventions for Electric Guitars in Stettin in Polen live auf.
Am Sonntag, den 4. Dezember 2022 ist Manuel Göttsching im Alter von 70 Jahren im Kreise seiner Familie friedlich eingeschlafen. Mit ihm verliert die Musikwelt einen Eckpfeiler der elektronischen Musik, einen Pionier und Wegbereiter der Berliner Schule. Viele Parts aus E2–E4 entwickelte und spielte Göttsching bereits auf seinem 75er Album ein. Seine Arbeiten dienten vielmals als Blaupause für die spätere Technomusik. Sehr viele Elektronikmusiker der neueren Generation berufen sich auf Manuel Göttsching als Vorbild, Ideengeber und Inspiration für eigene Musik. E2–E4 steht im elektronischen Musikkosmos als Monolith unverrückbar fest. Vielen Leuten noch gänzlich unbekannt ist zu hoffen, dass das Werk von Manuel Göttsching noch viel mehr musikbegeisterte Personen erreicht und E2–E4 endlich den Stellenwert beim normalen Publikum erlangt, der ihm wahrlich gebührt. Ihm zu Ehren findet am Freitag, den 10. Februar 2023 ein Memorial-Event in der Ufa-Fabrik in Berlin statt, bei dem die Dänen von Cirklen erneut Inventions for Electric Guitars aufführen. Neben weiteren Musikern wird auch Manuels alter Kollege und Freund Lutz „Lüül“ Ulbrich auftreten. Originale Vinyl Erstpressungen im Top Zustand bringen mittlerweile an die 400 Euro und sind kaum zu finden. Ein wahres Kleinod für jede Plattensammlung. Ich für meinen Teil bin sehr glücklich, Manuel Göttsching 2015 in München einmal live erlebt haben zu dürfen.
Manuel Göttsching – E2 – E4
1984 – Inteam – ID 20.004

Tracklisting:
A1 – Ruhige Nervosität
A2 – Gemäßigter Aufbruch
A3 – … Und Mittelspiel
A4 – Ansatz
B1 – Damen-Eleganza
B2 – Ehrenvoller Kampf
B3 – Hoheit weicht (nicht ohne Schwung)
B4 – … Und Souveränität
B5 – Remis